Zwischenruf Der iranische Albtraum

Im Konflikt um das Atomprogramm der Mullahs hat der Westen nichts so sehr zu fürchten wie Geiselnahmen - als Schutz gegen Luftangriffe Israels oder der USA. Aus stern Nr. 11/2006

Das Volk liebt den Querkopf, den Widerspenstigen, den Abtrünnigen. Den, der zwar drinnen mit dem Chor singt, aber wenigstens draußen sein eigenes Lied anstimmt - ein garstiges Lied. So berechenbar unberechenbar wie das Volk selbst. Das ist beständig in seiner Liebe zum Unangepassten. Aber treu ist es nicht. Das Volk kann brutal sein, herzlos, eiskalt. Wenn der alte, der eben noch heiß geliebte Dissonante zu nerven beginnt, die Stimmung versaut, ist er weg. Hoppla! Und ein neuer erkoren. Diese Scheidung auf Deutsch verrät viel über die Moden der Zeit. Und über die Moden der Deutschen.

Als Maßband jener Moden mögen die geschätzten Beliebtheitsskalen der Politik dienen. Sie weisen präzise aus: Nach 100 Tagen Großer Koalition haben sich die Deutschen geschieden. Und neu vermählt. Die Rolle des geliebten Störenfrieds ist anders besetzt. Friedrich Merz wurde verstoßen. Horst Seehofer beglückt. In einer anderen Zeit, einer sehr fernen - man erinnert sich ihrer nur noch mit Grausen, denn die schrecklichste Wahlschlacht war gerade geschlagen -, im Oktober letzten Jahres also, da kam der Modemann der Saison, der schneidend scharfe Radikalreformer, auf dem Laufsteg des "Spiegel" noch gleich nach dem Bundespräsidenten auf Rang zwei, neben Angela Merkel. Drei Monate später war Merz verschwunden, herausgeschubst aus der Riege jener 20 Politiker, denen das Volk "eine wichtige Rolle" beimaß.

Er war dabei. Sagen fünf Amerikaner, die am 4. November 1979 gemeinsam mit 47 Landsleuten beim Sturm iranischer Studenten auf die US-Botschaft in Teheran als Geiseln genommen worden waren. 444 Tage lang. In Mahmud Ahmadinedschad, heute Präsident des Landes, energischer Verfechter des iranischen Atomprogramms und Erzfeind Israels, wollen die fünf Zeugen einen der Anführer des Sturms auf die Botschaft wiedererkannt haben. Iranische Oppositionelle im Exil behaupten, Ahmadinedschad habe sich seinerzeit in dem für die Aktion verantwortlichen Komitee auch für die Erstürmung der sowjetischen Botschaft eingesetzt, sei aber überstimmt worden. Die Aussage der Ex-Geiseln, im Sommer vergangenen Jahres in der "Washington Times" veröffentlicht, begründet heute die geheimsten Befürchtungen der internationalen Politik im Konflikt um die atomaren Ambitionen des Teheraner Mullah-Regimes.

Denn die Geiselnahme in der US-Botschaft könnte Modell sein für das, was kommt, wenn diplomatische und wirtschaftliche Sanktionen gegen den Iran, ein Technologie-Boykott etwa, nicht fruchten, wenn amerikanische oder israelische Luftangriffe gegen Atomanlagen näher rücken. Es ist nicht nur der Albtraum des Westens, sondern auch Russlands.

Dass es so gut wie unmöglich sei, etwa 100 über das Land verteilte und zum Teil gut verbunkerte Atomanlagen durch Bombenangriffe zu zerstören, gehört zum Standardrepertoire der internationalen Debatte - führt aber in die Irre. Gewiss, die Lage ist ungleich komplizierter als bei der Zerstörung des irakischen Atomreaktors Osirak durch die israelische Luftwaffe im Jahre 1981. Damals genügte eine einzige Staffel Kampfbomber, um die atomaren Träume Saddam Husseins zu beenden. Doch auch die schwierigen Bedingungen im Iran halten heute amerikanische - und gewiss auch israelische - Strategen nicht davon ab, den Luftschlag zu denken. "Der Iran braucht vielleicht 100 Gebäude, um seine Bombe zu bauen. Doch reicht es, ein paar zentrale Einrichtungen zu zerstören, um Teherans Nuklearprogramm um mehrere Jahre aufzuhalten - vielleicht sogar länger", schrieb Edward Luttwak, ehemals Berater des US-Verteidigungsministeriums und heute Senior Fellow am Center for Strategic and International Studies in Washington. "Es könnte alles in einer Nacht getan sein." Die Israelis, heißt es in den westlichen Hauptstädten, würden die Bombe in der Hand eines rasenden Antisemiten wie Ahmadinedschad niemals akzeptieren. Man müsse sich darauf einstellen, dass er sie 2008 habe. Blieben alle politischen Bemühungen vergeblich, würden die Israelis oder die Amerikaner vorher militärisch handeln.

Die Geiselnahme in der US-Botschaft 1979 könnte Modell sein für das, was kommt, wenn Sanktionen nicht fruchten.

Wie könnte sich der Iran dagegen schützen? Was sich im Februar, oberflächlich betrachtet als Reaktion auf die dänischen Mohammed-Karikaturen, vor westlichen Botschaften in Teheran abspielte, darf als eindeutige Warnung in iranischer Sache interpretiert werden. Am 10. Februar griffen Studenten, die einer Gruppe der Revolutionsgarden zugerechnet werden, die französische Botschaft mit Steinen und Brandflaschen an - Frankreichs Präsident Jacques Chirac hatte unlängst die eigenen Atomwaffen politisch gegen den Iran in Stellung gebracht. Vier Tage später traktierten Studenten derselben paramilitärischen Organisation die deutsche Botschaft mit Steinen und Feuerwerkskörpern - Angela Merkel war kurz zuvor auf der Münchner Sicherheitskonferenz hart mit dem iranischen Vize-Außenminister aneinander geraten. "Tod für Frankreich", "Tod für Amerika", "Tod Deutschland" und "Deutschland, ihr seid Faschisten und willfährige Diener des Zionismus", lauteten die Parolen. Mit den dänischen Karikaturen hatte das nichts mehr zu tun. Dafür viel mit dem Atomkonflikt und seinen denkbaren Folgen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Auch die russische Führung fürchtet bei einer Eskalation Geiselnahmen im Iran. Etwa 2000 Russen hielten sich dort auf, eröffnete Wladimir Putin der deutschen Kanzlerin in Moskau. Die latente Bedrohung stürzt die in den Atomkonflikt verwickelten Staaten in ein schweres Dilemma: Ziehen sie ihr Botschaftspersonal ab, wie es die Dänen bereits getan haben, rufen sie zudem ihre Staatsangehörigen zum Verlassen des Iran auf, könnte das gerade als Ankündigung eines Militärschlags verstanden werden und Geiselnahmen in letzter Minute auslösen. Bleiben dagegen die Botschaften geöffnet und die Ausländer im Land, könnten sie bei einer militärischen Konfrontation jederzeit als Geiseln genommen und als menschliche Schutzschilde auf die Atomanlagen verteilt werden. So, wie die Serben im Balkankrieg wehrlose Blauhelmsoldaten an Brücken als potenzielle Ziele von Bombenangriffen gekettet hatten.

Dürften es Israel oder die USA wagen, etwa die Urananreicherungsanlage in Natans zu bombardieren, wenn dort Franzosen, Briten, Deutsche oder Russen gefangen gehalten würden? Das wäre der Höhepunkt des iranischen Albtraums.

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Hans-Ulrich Jörges