Ich weiß jetzt, was ich im SPD-Präsidium zu sagen habe. Sagt Peer Steinbrück, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, am Wahlabend von Schleswig-Holstein. Steinbrück, der am 22. Mai um sein Amt wie den Bestand seiner rot-grünen Koalition in Düsseldorf kämpft, hat die Warnung aus Kiel auf Anhieb verstanden: Die Visa-Affäre muss in Berlin schleunigst, im Kern jedenfalls vor der Landtagswahl an Rhein und Ruhr, abgeräumt werden - sonst droht Unkalkulierbares. Das erfordert nicht weniger als einen abrupten Strategiewechsel der rot-grünen Mehrheit im Untersuchungsausschuss: von Verschleppen und Verharmlosen zu Beschleunigen und Bekennen. Joschka Fischer und Otto Schily nicht irgendwann, sondern rasch im Kreuzverhör der Opposition.
Denn die Kieler Wahl, Spitz auf Knopf, hat den verheerenden Schaden für Rot-Grün dokumentiert. Präziser beschrieben: den Schaden für die Sozialdemokratie und damit auch für die Mehrheitsfähigkeit von Rot-Grün. Die Visa-Affäre, das ist das Lehrstück aus Kiel, bedroht die SPD existenzieller als die Grünen selbst. Die grüne Klientel igelt sich trotzig und realitätsblind in Verteidigungsstellung ein, die sozialdemokratische Stammwählerschaft aber zeigt sich am Nerv getroffen - flüchtet in Scharen in Resignation oder gar zum politischen Gegner. Grün vergiftet Rot.
Was ist im Norden geschehen? In den allerletzten Tagen des Wahlkampfs kippt die Stimmung. Die SPD verliert ihren Vorsprung, wird von der CDU überholt. In der Wahrnehmung der Wähler schiebt sich die Visa-Affäre noch vor das bislang dominierende Thema, die Fünf-Millionen-Arbeitslosigkeit. Am Wahltag wandern, so belegt eine Analyse, 53 000 Wähler der SPD zur CDU. Und in beträchtlicher Größenordnung gehen frühere SPD-Wähler in die Wahlenthaltung. Die Feinanalyse offenbart: es sind kleine Leute, vor allem Arbeiter und Arbeitslose.
Am Ende hat die SPD 4,4 Prozent Stimmen verloren, die Grünen aber haben nichts hinzugewonnen. Das ist das alarmierendste Signal: Die Grünen sind außerstande, wenigstens einen Teil der SPD-Dissidenten aufzufangen. Der über alle Zeiten des rot-grünen Bündnisses zuverlässig funktionierende Binnen-austausch zwischen Rot und Grün ist unterbrochen: Grün ist eingekapselt, Rot verliert an den Gegner. Und der hat umgekehrt ein zugkräftiges Thema zur Mobilisierung der eigenen Anhänger. Ja, mehr als das: Die CDU mobilisiert darüber hinaus noch nach zwei Seiten, nach "links" wie nach rechts. Hätte der Wahlkampf ein paar Tage länger gedauert, wäre der Triumph der CDU wohl nicht mehr zu verhindern gewesen. Es ist beileibe kein Zufall, dass die NPD mit 1,9 Prozent weit hinter den letzten Umfragen und früheren Spitzenergebnissen der DVU in Schleswig-Holstein zurückblieb. Die Affäre der Grünen und die Zuspitzung des Wahlkampfs haben einen Teil der rechtsextrem gefährdeten Wähler zur CDU getrieben. Kurioses Resultat des linken Kampfs gegen rechts. Ungewollt erfolgreich.
"Arbeitslosigkeit und laxe Ausländerpolitik treffen ins Mark der SPD, wecken auf explosive Weise Abstiegsängste kleiner Leute"
Massenarbeitslosigkeit und laxe Ausländerpolitik treffen ins Mark der Sozialdemokratie, wecken auf explosive Weise die Abstiegsängste kleiner Leute. Sie erschüttern die historische Kernkompetenz der SPD - wie das eisern dazu erarbeitete Renommee aus der Ära Schröder. Otto Schily war eine Bank im Kabinett des Kanzlers. Mit schneidiger Polizeipolitik hart am Rande der Verfassung und spektakulär ausgetragenen Schaukämpfen für einen rigiden Zuwanderungskurs hat er die Grünen zur Weißglut und die Union zur Verzweiflung getrieben - die in weiten Teilen ausländerkritische Stammklientel der SPD aber in Sicherheit gewiegt. Härter zu sein als Otto, das gelang niemandem, nicht einmal Günther Beckstein, seiner bayerischen Volksausgabe.
Nun ist Schilys Reinheit dahin. Er hat befleckt empfangen von den Grünen, hat sich, murrend und widerstrebend zwar, am Ende aber doch sperrig mitwirkend, verdrängend und wegschauend, in den fatalen Deal des Kanzleramts mit Fischer einbinden lassen. Er knirscht über diesen Fehler nicht minder verbittert mit den Zähnen wie Fischer über den seinen. Aus Gegnern am Ursprung der Affäre sind Partner auf ihrer Endmoräne geworden. Wollte sich einer auf Kosten des anderen retten, würden beide darunter begraben. Es hilft nur der gemeinsame Aufstieg zur Wahrheit.

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Tolerieren die Sozialdemokraten aber weiter die entwürdigenden Beschwichtigungs- und Ablenkungsmanöver der Grünen, lassen sie sich einbinden in deren moralische Selbstaufgabe, schicken sie Steinbrück auf einen Opfergang ins Ruhrgebiet. Die Arbeitslosenzahl für Februar wird noch einmal sprunghaft steigen. Und jeder öffentliche Auftritt der grünen Chefsirene Claudia Roth ist für die CDU unbezahlbar.
Otto Schily meinte kürzlich in kleiner Runde, das Auswärtige Amt könne ihn nach der Wahl 2006 auch noch mal reizen. So bald wird er nicht mehr scherzen. Nicht so.