Zwischenruf Wahlen des Terrors

Osama bin Laden versucht, Politik zu machen - den Westen zu spalten und Völker zu manipulieren. Das könnte auch für Deutschland 2006 Folgen haben. Aus stern Nr. 18/2004

Die Botschaft war ebenso perfide wie durchsichtig - doch von dramatisch unterschätzter politischer Tragweite. Keine Verhandlungen mit Terroristen, tönten die westlichen Regierungen im Chor, als Osama bin Laden den Europäern einen "Waffenstillstand" anbot. Ein Echo, das auf zweifache Weise in die Irre führt. Erstens: Mit Verhandlungen hat der Islamist gar nicht gelockt, er verkündete ein dreimonatiges Ultimatum für den Abzug der europäischen Truppen aus der islamischen Welt. Zweitens: Mit Terroristen hat der Westen, wenn es ihm passte oder er nicht mehr umhin kam, nur allzu oft verhandelt: Jassir Arafat, der vermutlich mehr Opfer zu verantworten hat als bin Laden durch das Fanal vom 11. September, wurde am Ende gar mit dem Friedensnobelpreis geschmückt; Menachem Begin, Drahtzieher des anti-britischen Bombenanschlags auf das King-David-Hotel in Jerusalem, avancierte zum Premier Israels. Die Geschichte ist gespickt mit Terroristen, die zu Politikern wurden.

Exakt hier wurzelt das Neue, das Alarmierende des Signals aus dem terroristischen Jenseits - einer mit kühlem Kopf als doppelgesichtig zu analysierenden Botschaft. Die erste müsste, klänge das nicht zynisch, fast beruhigend genannt werden - die zweite ist in höchstem Maße bedrohlich.

Bin Laden präsentiert sich als "Politiker"

Ad eins: Der Apokalyptiker des 11. September, bislang unisono als tollwütig und unerreichbar interpretiert- ein Blutsäufer außerhalb aller politischen und zivilisatorischen Bindungen -, präsentiert sich plötzlich, wenn auch mit allzu fadenscheinigem strategischen Kalkül, als "Politiker", der die klassischen Instrumente des Lockens und Drohens, der gewaltsamen Erpressung, bedient. Mit einem Wort: Der Irrationale wird rationaler Deutung zugänglich. Er versucht, auf Augenhöhe mit den Mächtigen der Welt zu kommunizieren, zur bewegenden Kraft in deren Kräftespiel zu werden.

Ad zwei, und dies ist die bestürzende Seite: Osama bin Laden beginnt, gezielt in die Innenpolitik der Staaten einzugreifen, ihre Öffentlichkeit zu manipulieren - und Wahlentscheidungen zu beeinflussen. Das muss frühzeitig auch den Blick schärfen auf denkbare Folgen für die Bundestagswahl 2006.

Spanien war Operationsfeld für den ersten erfolgreichen Test

Bin Ladens Ziel ist klar und einfach: die USA und Israel zu schwächen und zu isolieren, in ihren Partnerländern Regierungen zu stabilisieren oder indirekt zu installieren, die sich der amerikanisch-israelischen Machtpolitik in der islamischen Welt zumindest partiell verweigern. Spanien war das Operationsfeld für den ersten erfolgreichen Test: Die Bombenanschläge vom 11. März in Madrid, gezielt auf die Parlamentswahlen drei Tage später, haben eine panisch lügende und verschleiernde konservative Regierung gestürzt, die USA eines Alliierten im Irak beraubt. Das blutige Exempel zeigte sofort Wirkung: In Polen und andernorts wurde die Debatte über einen Truppenabzug aus dem Irak befeuert. Auch die Eruption der Gewalt und die grassierenden Geiselnahmen im Irak dürfen so verstanden werden - als Versuche, den im Treibsand seines Anti-Terror-Krieges versinkenden George W. Bush bei der Präsidentenwahl im November zu erledigen und gleichzeitig die Kriegsgegner bei seinen Alliierten innenpolitisch entscheidend zu stärken. Westlich geprägte Stimmungsdemokratien verweigern sich nun einmal auf Dauer unkalkulierbaren kriegerischen Abenteuern.

Will bin Laden einen Machtwechsel in Berlin verhindern?

Für Deutschland ist diese Analyse kurzfristig beruhigend, mittel- und langfristig indes besorgniserregend. Die europäische Zentralmacht ist, erst recht seit dem spektakulären Widerstand der Regierung Schröder gegen den Irak-Feldzug, in einer Schlüsselrolle für die internationale Politik. Das verspricht aktuell, trotz der deutschen Truppen in Afghanistan, relative Sicherheit vor islamistischem Terror - wie im einschlägig verbündeten Frankreich.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Wer Merkel wähl, wählt Krieg - auch im eigenen Land

Für die Wahl 2006 könnte das, sofern nicht ein neuer Präsident in Washington die Weltlage umwälzend verändert, tiefgreifende Konsequenzen haben. Hielte die Ruhe bis dahin, während woanders Bomben explodieren, wäre der Anreiz für Gerhard Schröder übermächtig, den Sieg erneut, wie schon 2002, in einem Wahlkampf um Krieg und Frieden zu suchen, in prononcierter Distanz zu den USA. Es wäre ein legitimes Kalkül. Unkalkulierbar bliebe indes, ob und wie bin Laden einzugreifen versuchte, um einen Machtwechsel zur amerikatreuen Angela Merkel zu verhindern. Er könnte versucht sein, eine besondere Botschaft an die Deutschen zu richten: Wer Merkel wählt, wählt Krieg - auch im eigenen Land.

DPA
Hans-Ulrich Jörges