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Die 68er Aufbegehren in den Betten

Erst schwappte eine Erotikwelle über deutsche Schleiflackgarnituren, und Oswalt Kolle erklärte der Nation, worum es im Schlafzimmer geht. Dann forderten die Kommunarden die sexuelle Revolution.

Es ist das Jahr 1966. Am Kochelsee in Oberbayern treffen sich sieben Männer, drei Frauen und zwei Kinder. Vor Alpenpanorama beschließt die reichlich durchgeknallte Gruppe in tagelangen Debatten und nicht eben bescheiden, ganz bald "den Menschen des 21. Jahrhunderts" zu schaffen, von dem Che Guevara damals gerade träumt. Der soll, fernab von der bürgerlichen Familie, in einer "zärtlichen Kohorte" wiedergeboren werden, deren Mitglieder revolutionär zusammenleben.

Wortführer der Versammelten ist der 27-jährige Dieter Kunzelmann, Sohn eines Sparkassendirektors und Mitglied der Schwabinger Künstlerszene, ohne selbst Künstler zu sein. Er fordert: "Ihr müsst euch entwurzeln! Raus aus euren Zweierbeziehungen! Sucht nicht eure Sicherheit und euren Besitzanspruch bei dem anderen! Seid eine offene Persönlichkeit!"

Es ist die Geburtsstunde der Kommune I, die sich später in einer geräumigen Wohnung am Stuttgarter Platz in Berlin niederlässt. Das Geld wird geteilt, die Klotüren werden entfernt, und in endlosen Sitzungen muss ein jeder täglich sein Innerstes aufs Matratzenlager kotzen. Es gehe, so Kunzelmann in seinen "Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen" im damals üblichen Horror-Deutsch, um die Sprengung "bürgerlicher Abhängigkeitsverhältnisse (Ehe, Besitzanspruch auf Mann, Frau und Kind etc.), Destruierung der Privatsphäre und aller uns präformierenden Alltäglichkeiten".

"Ich habe Organsmusschwierigkeiten!"

Alsbald krakeelt er indes: "Was kümmert mich Vietnam? Ich habe Orgasmusschwierigkeiten!" Das ist nun endlich ein Satz der 68er - vermutlich der einzige -, den alle Deutschen verstehen, zumindest alle deutschen Männer. In ihren Augen geht es am Stuttgarter Platz hauptsächlich um Sex. Sie gruseln sich wollüstig, als sie dem stern entnehmen, die Frauen der Kommune seien "theoretisch die Gefährtinnen sämtlicher männlicher Maoisten", überlesen das Wort "theoretisch" und denken: Matratzen! Orgien!! Uschi Obermaier!!! Sie studieren staunend Flugblätter, in denen etwa geschrieben steht: "Wir fordern für die Polizei statt des Gummiknüppels eine weiße Büchse, in der sich Bonbons für weinende Kinder befinden und Verhütungsmittel für Teenager, die sich lieben wollen, und Pornografie für geile Opas", und beginnen, Sex für subversiv zu halten.

Nach der "Sexwelle", die Mitte der 60er Jahre über die Schleiflackgarnituren deutscher Schlafzimmer hinweggeschwappt war, sorgt fortan die "sexuelle Revolution" für Verwirrung hinterm Wolkenstore. Hatten die Teutonen gerade erst durch den Illustrierten-Aufklärer Oswalt Kolle und mit Unterstützung der Produkte "für Ehehygiene" aus Beate Uhses Versandhaus erfahren, dass Sex tatsächlich auch Spaß machen kann, heißt es jetzt: Fickt euch frei! Vögeln wird zum klassenkämpferischen Akt hochstilisiert, und je weniger "Ehehygiene" im Spiel ist, desto besser. "Schießen ist ficken, ficken ist schießen", wird der RAF-Macho Andreas Baader später sagen.

Für andere ist Sexualität der schnellste Weg zum Weltfrieden: "Wenn menschen sich viel mit dem säugling, dem kleinen kind und dem größeren kind beschäftigen, wenn sie ihm sagen, wozu schwanz und scheide und verhütungsmittel da sind, dann wagt es, nein zu sagen, sagt es, wovor es angst hat, verweigert es den kriegsdienst, kriegt es später wunschkinder", steht treuherzig in der 1974 erschienenen "Sexfibel" geschrieben.

30 Jahre nach dem Treffen in Kochel zieht der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch, einst vehementer Anwalt der Trieb-Befreiung, in der "Zeit" eine so verheerende wie verquaste Bilanz seines eigenen Treibens. Nur noch "Bruchstücke" seien von der sexuellen Revolution übrig geblieben. "Sie heißen das missbrauchte Kind, der Sextourist, der Pferdeschänder." Dazu komme noch folgendes "gequälte und quälende" Personal: "die falsch liebende Mutter, der lüstern abwesende Vater, der sexistische Mann, die lustlose Frau, der medial Sexsüchtige, der elektronisch zerstreute Perverse, der medizinisch prothetisierte Impotente, der operativ beruhigte Geschlechtswechsler, vor allem aber das sozial ungleiche, emotional misstrauische, theoretisch und aporetisch heterosexuelle Paar". Angesichts dieser Truppe "dürfte Eros ein falbes Grauen" beschleichen. Auf jeden Fall beschleicht es den Leser.

Der Zwang zur Pille

Ein anderes, aber ähnlich schauriges Bild malt die Autorin Ute Kätzel in ihrem Buch "Die 68erinnen". Für sie scheint die Studentenrevolte nicht viel mehr gewesen zu sein als ein antifeministisches Komplott der Pharmaindustrie und sexistischer Kommunistenferkel: "Die sogenannte sexuelle Befreiung bedeutete für viele Frauen eine neue Form der Bevormundung, die in scheinbar gesellschaftskritischen Sprüchen ihren Ausdruck fand: 'Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment'. Vielen Frauen wurde vorgehalten: Wenn du nicht mit mir schläfst, bist du 'ne Bürgerliche. Die Antibabypille verstärkte diesen Druck erheblich. Es bestand fast schon ein Zwang, die Pille zu nehmen."

Und für den erzkonservativen Journalisten Georg Gafron sind die Folgen von 68 "eine zunehmende Belastung für die Frauen und eine weitgehende Befreiung der Männer von Verantwortung. Die Folgen sind Kinderlosigkeit, Einsamkeit und Bitterkeit in weiten Teilen unserer Gesellschaft".

Deutschland war fast wie Saudi-Arabien

Grauseschreck. Sollen wir uns etwa zurücksehnen nach der Adenauer-Ära, als geschändete Kinder totgeschwiegen wurden, kein Pillenzwang herrschte, der die Frau versklavte, und Jugendlichen beigebracht wurde, dass Masturbation zu Debilität sowie Haarausfall und Rückenmarksschwund führe?

"Auf keinen Fall", sagt kategorisch Alice Schwarzer, Jahrgang 1942. "Ich bin als Feministin die Allererste, die versteht, dass gerade im Bereich der Sexualpolitik vieles, was die 68er vertreten haben, kritisch gesehen wird: von der Sexualität mit Kindern bis hin zur Propagierung der Pornografie. Aber man kann sich den Grad der Repression und der sexuellen Bigotterie in der Zeit davor heute gar nicht mehr vorstellen."

Auch der 79-jährige Oswalt Kolle, der seit fast vier Dekaden in Amsterdam lebt und sich immer noch darum bemüht, "die Sexualität des Mannes zu erotisieren und die Liebe der Frau zu sexualisieren", hält Nostalgie für "Blödsinn". Die 50er Jahre seien eine "grauenvolle Zeit" gewesen, und die frühen 60er nicht viel besser. "Während und auch nach Hitler hat die Allianz zwischen Nazis und der Kirche bestens funktioniert. Die große Freiheit, die einige nach dem Krieg witterten, wurde von Adenauer mithilfe alter NSDAP-Mitglieder sofort abgewürgt. Es herrschte die totale Restauration, politisch sowieso, aber auch in puncto Sexualität. Nachkriegsdeutschland war entsetzlich frauenfeindlich, Sex wurde nur innerhalb der Ehe geduldet, und es tobte ein erbitterter Kampf gegen Homosexuelle. Die Bundesrepublik war nicht ganz wie Saudi-Arabien, aber fast."

Frauen als Musiktruhen-Ersatz

Tatsächlich kann die SPD-Politikerin Elisabeth Selbert, eine der vier Mütter des Grundgesetzes, nur gegen den erbitterten Widerstand etlicher Männer durchsetzen, dass der Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" seither dort steht. Ernst nimmt ihn indes kaum jemand, findet doch der spätere CDU-Familienminister Franz-Josef Wuermeling: "Eine Mutter daheim ersetzt vielfach Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen."

Unter Adenauer ist die einzig vorgesehene Lebensform die Hausfrauenehe. Arbeitende Mütter haben sogenannte Schlüsselkinder, deren schauriges Schicksal regelmäßig in aufwühlenden Artikeln geschildert wird, die ganz Deutschland zu Tränen rühren. "Die Berufstätigkeit der verheirateten Frau wirkt ehezersetzend, und, weil sie in höchstem Grade kinderfeindlich ist, volks- und kulturzersetzend", schallt es ganz im Duktus von Eva Herman und Christa Müller aus der katholischen Kirche.

Ohnehin hat der Musiktruhen-Ersatz Frau kaum mehr Rechte als ein Kind. Die Bundesbürgerin darf nur mit Zustimmung ihres nächsten männlichen Verwandten arbeiten, um- oder ausziehen und den Führerschein machen. Erst 1958 wird sie geschäftsfähig; berufstätig kann sie allerdings nur sein, solange ihre "familiären Pflichten" darunter nicht leiden. Was die sind, bestimmt selbstverständlich ihr Mann.

Geschiedene Frauen, ledige Mütter und Homosexuelle sind auf die drei untersten Stufen der Adenauer-Hierarchie verbannt. Sie werden geächtet und gedemütigt, die Schwulen außerdem noch verfolgt und weggesperrt in Zuchthäuser. "In der gesamten Nazi-Zeit gab es rund 50.000 Verfahren gegen Homosexuelle und in der Adenauer-Ära etwa ebenso viele", so Kolle. "So waren diese 'herrlichen Zeiten'. Zum Glück sind sie vorbei."

Bis 1973 galt der Kuppelei-Paragraf

Sex darf nur im Ehebett stattfinden, urteilt doch der Bundesgerichtshof noch 1961: "Die moralische Ordnung fordert, dass körperliche Beziehungen zwischen den Geschlechtern grundsätzlich sich nur in monogamen Ehen vollziehen, da Zweck und Ergebnis dieser Beziehung das Kind ist." Außereheliche Gemeinschaften sind folgerichtig verboten. Wer unter seinem Dach ein unverheiratetes Paar auch nur für eine Nacht beherbergt, macht sich strafbar nach dem sogenannten Kuppelei-Paragrafen, endgültig abgeschafft erst 1973, und riskiert bis zu fünf Jahre Zuchthaus. "Nachbarn fungierten als selbst ernannte Blockwarte und schwärzten jeden an, den sie nicht leiden konnten", sagt Kolle. "Es gab jährlich bis zu 400 Verfahren."

Ein Erlass Heinrich Himmlers aus der NS-Zeit, der Werbung für Empfängnisverhütung verbietet, ist bis in die späten 60er Jahre in Kraft. Kondome gibt es nur für Volljährige. Und als am 1. Juni 1961 die Pille auf den deutschen Markt kommt, wird sie von der Firma Schering zunächst als Medikament zur Menstruationsregelung bezeichnet. Sie soll nur verheirateten Frauen mit Kindern verschrieben werden, weil konservative Mediziner um die "Schöpfungsordnung" bangen und finden, die Pille bedrohe wegen der "zunehmenden Sexualisierung unseres öffentlichen Lebens die biologische und charakterliche Substanz unseres Volkes".

Dass nach Schätzungen pro Jahr jährlich 10.000 Frauen an den Folgen illegaler Abtreibungen ums Leben kommen, gefährdet diese Substanz offenbar nicht, wohl aber der Anblick unbekleideter Menschen, die ausschließlich im Museum zu sehen sind. Ansonsten wird jeder Zentimeter nackter Haut im zähen Ringen mit den emsigen Zensoren von der "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften" erkämpft, die streng darüber wachen, dass den Deutschen "Schund und Schmutz" - will heißen: Erotik und Pornografie -, aber auch jede sachliche Information über Sex vorenthalten bleibt. "Als die 'Neue Revue' 1966 zusammen mit einer meiner Serien Statistiken aus dem Kinsey-Report abdruckte", sagt Kolle, "fand der konservative Soziologe Helmut Schelsky: 'Man darf die normative Kraft des Faktischen nicht unterschätzen.' Also wurden die Statistiken indiziert. Und die Serie sowieso."

Kolles "Zärtlichkeits-Scheiß"

Das, was nach der Zensur von Kolles Artikeln und Filmen übrig bleibt, macht dennoch Furore, besonders bei Frauen. "Sie schrieben mir Zehntausende Briefe, und ich wusste: Es herrschte in deutschen Betten das nackte Elend. Damals gab es diesen bösen Witz: 'Der Mann sagt im Bett zu seiner Frau: Entschuldige, Liebling, habe ich dir wehgetan? - Wie kommst du darauf? - Ich habe das dumpfe Gefühl, dass du dich eben bewegt hast.'" Männer dagegen sehen selten Handlungsbedarf, auch Kolles damaliger Chefredakteur nicht, der einmal sagt: "Ich finde es ja toll, was der Oswalt für einen Erfolg hat mit seinem Zärtlichkeits-Scheiß, aber ich verstehe das nicht. Bei mir geht das ruck, zuck und fertig!"

Die Hardcore-68er können mit Kolles "Zärtlichkeits-Scheiß" ebenfalls nichts anfangen. Er hält sie für eine Ansammlung "frauenfeindlicher Pfarrerssöhne aus Tübingen, die ihren Schwanz irgendwo reinstecken wollten, ganz egal wohin". Sie halten ihn für hoffnungslos spießig, will er doch durch Spaß beim Sex die Ehe retten und damit das Reihenhaus, den Jägerzaun, den Nierentisch und das ganze Establishment gleich mit.

Die 68er dagegen wünschen sich die Weltrevolution, darunter geht es nicht. Und werden in ihrem unstillbaren "Theoriebedarf " fündig beim völlig vergessenen Psychiater Wilhelm Reich. Der war als Jude und Kommunist vor den Nazis ins Exil geflohen, hatte dort 1936 das Werk "Die Sexualität im Kulturkampf " verfasst und darin Marxismus und Psychoanalyse sowie Eros und Kultur auf das Schönste miteinander vermählt. "Die Unterdrückung des kindlichen und jugendlichen Liebeslebens hat sich als Kernmechanismus der Erzeugung von hörigen Untertanen und ökonomischen Sklaven erwiesen", heißt es bei Reich, von Hans Magnus Enzensberger auch "Rosenkreuzer des Ficks" genannt. Und des Weiteren, dass ein "rundum gesunder, glücklicher, geselliger Mensch" nur werden könne, wer seine "orgiastische Potenz" erreiche und zu einer "genitalen Persönlichkeit" werde.

Kommune mit "genitalen Persönlichkeiten"

Bingo! Indes wollte in der Kommune I die Verwandlung von adretten Tanzstundenabsolventen zu "genitalen Persönlichkeiten" nicht recht glücken. Rudi Dutschke, am Kochelsee noch dabei, zieht in die "Horror-Kommune", wie er sie bald nennt, gar nicht erst ein, sondern heiratet stattdessen sein Gretchen Klotz aus den Vereinigten Staaten. Die diagnostiziert am Stuttgarter Platz "Psychoterror", findet die Idee "nicht gut, dass alle mit allen schlafen sollten", stellt sich Jahrzehnte vor Michel Houellebecq die Frage, "was man mit den Leuten machen sollte, mit denen niemand schlafen wollte", und erkennt mit Sartre: "Die Hölle, das sind die anderen."

So ist es. Statt Orgien zu feiern, wird wahnhaft diskutiert, seziert, analysiert. Im fernen Kalifornien findet der "Yippie" Jerry Rubin, dass es "lustiger sein muss, bei der Revolution mitzumachen, als nicht", und empfiehlt daher wärmstens den Erwerb eines Farbfernsehers, einen "ständig mit Bier gefüllten Kühlschrank" sowie: "Get high!" Ferner tut er kund: "Ficken ist ein schmutziges Wort, weil man nackt sein muss, um es zu tun, und es außerdem Spaß macht."

Am Stuttgarter Platz wird dagegen akribisch Protokoll geführt. "Chaotischer Zustand", heißt es etwa, und auch: "Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft", oder: "Zwangszusammensetzung innerhalb der Kommune lösen". Make love, not war? Das Gegenteil ist der Fall.

"Wenn unser Wahlspruch auch lautete, Politik müsse Spaß machen, so war doch dabei das Wörtchen 'muss' nicht ganz ohne Bedeutung", schreibt der Kommunarde Ulrich Enzensberger. Während die Männer Flugblätter verfassen, machen die Frauen Schnittchen oder liegen "heulend im Bett", wie Dagmar Przytulla sich schaudernd erinnert. "Nur die Männer hatten andere Frauen. Wir dagegen hingen emotional an dem Partner, mit dem wir eingezogen waren."

Sie ist mit Kunzelmann eingezogen und hängt an ihm, obwohl die beiden eigentlich getrennt sind. Przytulla wird schwanger. "Eigentlich hatte ich mich darüber gefreut und konnte mir sogar vorstellen, dieses Kind innerhalb der Kommune zu haben. Als aber dann in einer großen Debatte beanstandet wurde, dass ich das Schwangerwerden nicht vorher mit der Kommune besprochen hatte, und Kunzelmann sich lauthals davon distanzierte, weil er sich nicht als Vater fühlte, war für mich klar, dass es in dieser Situation nur einen Abbruch geben konnte."

Frauen kamen, litten und gingen

Die 500 Mark, die die illegale Abtreibung kostet, werden aus der Gemeinschaftskasse bezahlt. Als Przytulla weinend aus der Vollnarkose aufwacht, beschließt sie, das Kollektiv zu verlassen - wie etliche Frauen vor ihr, "die kamen, litten und dann wieder gingen". Zuvor lässt sie sich allerdings noch für das legendäre Nacktfoto der Kommune rekrutieren. Es ist das erste und letzte Mal, dass sie alle Mitglieder entkleidet sieht.

Daniel Cohn-Bendit wird später in einem Frankfurter Kindergarten, wo er als Erzieher jobbt, seine Schützlinge an sich herumfummeln lassen und seinerseits an ihnen herumfummeln.

Ist das Pädophilie? Nach heutigen Maßstäben ganz bestimmt. Doch damals gilt: Was verboten ist, ist automatisch subversiv, und wer es tut, leistet politischen Widerstand. Wo der neue Mensch geschaffen wird, müssen Laborratten her. Die Sexualisierung der Kinder in der Kommune II geschieht nicht aus Neigung, sondern im Namen des Großen und Ganzen: Sie sollen sich gefälligst selbst erziehen und nicht auf ihre Eltern fixiert sein. Als Vorbild dient, man glaubt es kaum, eine Studie von Anna Freud über Kinder von ermordeten Eltern im Konzentrationslager Theresienstadt. So gleichen die Erben der Nazis manchmal auf geradezu gespenstische Weise den Nazis selbst: Im Bann wahnhafter Ideale schrecken sie vor wenig zurück.

Unglaublicher Gruppendruck

Der Soziologe Reimut Reiche, einst Vorsitzender des SDS und heute Psychoanalytiker in Frankfurt, wundert sich noch immer über die Dinge, die er damals tat - "aus der Kirche austreten, obwohl ich gläubig bin" -, und nicht tat: "Ski laufen oder rennen. Obwohl ich beides liebe, aber jeder Sport außer Fußball galt als bürgerlich. Es herrschte ein unglaublicher Gruppendruck, unter dem besonders die Frauen litten. Wir merkten gar nicht, was für eine Macho-Clique wir waren. Wer auf Demos das große Wort führte, hatte praktisch einen Anspruch auf Sex. Das wurde natürlich nicht ausgesprochen, aber so war es."

So kommt es zur Revolte innerhalb der Revolte. Am 13. September 1968 schleudert die damals hochschwangere Sigrid Damm-Rüger auf einem Delegiertenkongress des SDS eine Tomate in das Gesicht des Studenten-Theoretikers Hans-Jürgen Krahl, weil die Männer wieder mal nicht zuhören, als die spätere Filmemacherin Helke Sander über die "Interessen von Frauen und Müttern" spricht. Aus den "Bräuten der Revolution" mit Groupie-Status, die "tippen, Flugblätter verteilen, Wandzeitungen malen, Briefmarken lecken", wie die Mitglieder des bald gegründeten "Weiberrats" diagnostizieren, werden Emanzen. Sie fordern: "Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!", mokieren sich über "sozialistischen Bumszwang", "revolutionäres Gefummel" sowie "gesamtgesellschaftlichen Orgasmus" und erkennen: "Frauen sind anders anders."

Vor allem aber stellen sie die Frage nach Macht und Ohnmacht in der Sexualität. "Die 68er haben das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen und auch das zwischen Erwachsenen und Kindern völlig ignoriert", so Alice Schwarzer. "Erst die Frauenbewegung hat die Kategorie der Macht bewusst gemacht - und damit auch die der Abhängigkeit und Gewalt." Allerdings tut sie das so gründlich, dass die Sexualität später all ihre Unschuld verliert. Für Hardcore-Feministinnen gilt seither: Heterosexueller Sex ist immer Gewalt. Und die Frau stets Opfer.

"Danach kam der Blues"

Auf den Rausch der Befreiung folgt der Kater. Die Kommunen rutschen ab - in Terror, in K-Gruppen, in Drogen, ins Nichts. Übrig bleiben ihre gezähmten Varianten, die Wohngemeinschaften. Die sexuelle Revolution mit ihrem Versprechen vom großen Glück endet in der Beziehungskiste, im Swingerclub, in endlosen Missbrauchsdebatten. "Wir kamen aus muffigen, verbogenen Zeiten", sagt Jörg Schröder, der damals im März-Verlag aufklärerische Bücher wie Günter Amendts "Sexfront" herausgibt und zugleich in der "Olympia-Press" "Schund und Schmutz" vertreibt, wie die Zensur ihm regelmäßig attestiert. "Als kleiner Junge musste ich auf Büstenhalterprospekte onanieren, wie alle anderen auch. In den 60er Jahren hatten wir das Gefühl, wir könnten alles machen. Und wir haben auch vieles gemacht. Aber danach kam der Blues. Als die Freiheit sich verhärtete, als aus der Sexualität schmieriger Porno wurde." Für den Philosophen Peter Sloterdijk führten "alle Wege von 68 letzten Endes in den Supermarkt". Das mag sein. Doch immerhin gilt heute im Supermarkt des Sex: Erlaubt ist, was gefällt - und zwar allen Beteiligten. Zwar keine Revolution, aber auch nicht schlecht. "Doch immer weniger Menschen machen davon Gebrauch", sagt Kolle. "Wir sind auf dem Weg in eine Masturbationsgesellschaft. Masturbation ist prima, wirklich, aber man lernt beim Geschlechtsverkehr einfach mehr Leute kennen."

Von Stefanie Rosenkranz print

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