Er sucht nicht die Bühnen, drängt nicht nach vorne, auch hier nicht, in Vilnius. Jens Plötner taucht ab, ist irgendwo auf den Fluren des Kongresszentrums unweit der Altstadt unterwegs, in den Hinterzimmern, Konferenzräumen, wo die Staats- und Regierungschefs der Nato-Mitgliedsländer und ihre Unterhändler darüber feilschen, wie man das Bündnis stärkt und wann die Ukraine endlich beitreten kann. Minister treten vor die Kameras, Präsidenten. Plötner bleibt versteckt.
Ein Mann im Off, so scheint es.
Aber Plötner ist eine Schlüsselfigur im Kosmos von Olaf Scholz, auch auf dem Gipfel in der Hauptstadt von Litauen. Er managt die Außen- und Sicherheitspolitik des Kanzlers, monatelang hat der 55-jährige mit seinen Counterparts anderer Regierungen die Ziele des Nato-Treffens vorbereitet: Einen groben Pfad für den Beitritt der Ukraine. Eine neue Verteidigungsstrategie, 4000 Seiten stark. Die Nato, ein Bollwerk gegen Russland und Wladimir Putin, den Kriegsherrn. Es geht nicht anders, das weiß auch Plötner.
Dienstagabend, das Pacai-Hotel in der Innenstadt von Vilnius. Der Kanzler sitzt mit Boris Pistorius, dem Verteidigungsminister und Annalena Baerbock, der Außenministerin, in einem Konferenzraum, erzählt über den Gipfel, die Gespräche, die Schwierigkeiten. Nichts darf zitiert werden. Gegen halb zwölf geht die Tür auf. Plötner taucht auf. Er hört zu. Still, mit einem Weinglas in der Hand, im Hintergrund.
Seine Vergangenheit hängt ihm nach
Der Krieg hat viel über den Haufen geworfen, er hat Europa verändert, die Rolle von Scholz, auch die seines engen Beraters: Plötner ist aufgestiegen in der Mannschaft des Kanzlers, wichtiger geworden. In der Koalition gilt er manchen als kleiner Außenminister.
Das ist einerseits fast selbsterklärend, der politischen Lage, aber auch seiner Laufbahn wegen. Seit fast drei Jahrzehnten ist Plötner in der Außenpolitik unterwegs, war mal Sprecher des Auswärtigen Amts, später dort Politischer Direktor, zwischendurch Botschafter in Griechenland, Tunesien, Sri Lanka. Eine Karriere, wie gemacht für das Amt, das er im Kanzleramt bekleidet.
Andererseits hängt seine Vergangenheit ihm nach, so sehr, dass manche meinen, ihm fehle die Glaubwürdigkeit, um für den Kanzler Gegenwartsfragen zu klären. Plötner gehörte zum engsten Kreis von Frank-Walter Steinmeier, der wie kein anderer die gescheiterte deutsche Russlandpolitik prägte. Er war Büroleiter Steinmeiers, als Wladimir Putin 2014 die Krim überfiel, schrieb mit am zweiten Minsker Abkommen, das für eine Weile einen Waffenstillstand schuf, später dann aber in sich zusammenfiel. Wie Steinmeier setzte Plötner jahrelang auf einen Ausgleich mit Moskau und darauf, die Brücke auch zu Putin nicht einstürzen zu lassen.
Bis heute hält er den Ansatz für im Grundsatz richtig. Das damalige Ziel sei ja nicht dadurch falsch geworden, dass man es nicht erreicht habe, findet Plötner. In der Ukraine kann man mit Diplomaten aufgrund seiner früheren Russlandpolitik wenig anfangen, er gilt dort bis hinein in die Spitze des Regierungsapparats als Appeaser, als Beschwichtiger.
Wie sehr seine früheren Jobs ihm noch immer zum Problem werden können, zeigte sich vor rund einem Jahr bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte. Bei einer Veranstaltung in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik kritisierte Plötner damals die deutsche Waffendebatte und sagte: "Mit 20 Mardern kann man viele Zeitungsseiten füllen, aber größere Artikel darüber, wie in Zukunft unser Verhältnis zu Russland sein wird, gibt es weniger." Dabei sei das eine "mindestens genauso spannende und relevante Frage". Der Auftritt geriet zu einem mittelschweren Eklat. Auch in der Koalition wurde er als Russlandversteher kritisiert. Scholz hielt zu ihm.
Plötner setzt andere Akzente als Baerbock
Plötner, der in Hamburg Jura studierte, ist nun kaum mehr wegzudenken aus dem Team des Kanzlers, auch wenn manche sich noch immer an ihm stoßen, im Auswärtigen Amt von Annalena Baerbock zum Beispiel. Während die Grüne versucht, die Moral in ihrer Politik hochzuhalten, die Werte, setzt Plötner in vielen Fragen andere Akzente. Realpolitischere, vorsichtigere. Ein Schritt nach dem anderen.
Scholz‘ Mantra, die deutschen Waffenlieferungen stets so zu kalibrieren, dass sie der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf zwar helfen, Russland aber nicht zu einer Eskalation provozieren, geht auf Plötner zurück. Auch dass Scholz gegenüber Peking weniger konfrontativ auftritt als Baerbock, ist ein Zeichen für seinen Einfluss. Und die Versuche, den "Globalen Süden" – Schwellenländer wie Indonesien oder Brasilien – gezielt zu neuen Partnern zu machen, entstammt ebenfalls der Denkschule des Kanzlerberaters. Pragmatismus, wohin man blickt.
Manche in der SPD sprechen bereits von einer "Scholz-Doktrin", Rolf Mützenich zum Beispiel, der Vorsitzende der Bundestagsfraktion. Eigentlich müsste sie "Plötner-Doktrin" heißen, findet wahrscheinlich auch Plötner. Der Jurist mag eher still sein. Uneitel ist er nicht.
Und in Vilnius? Dort wurde besonders in der Frage gerungen, wie sehr man die Ukraine an die Nato bindet, ob man ihr womöglich einen konkreten Beitrittspfad verspricht. Die osteuropäischen Mitgliedstaaten drängten darauf, forderten, im Gipfelpapier einen Automatismus festzuschreiben, der sicherstellt, dass die Ukraine nach Kriegsende in die Nato aufgenommen wird. Scholz und Joe Biden, der US-Präsident, stemmten sich gegen eine zu eindeutige Formulierung, um Moskau in dieser Phase des Krieges nicht zu sehr zu provozieren.
Nun ist der Passus im Dokument weicher formuliert. Die Ukraine wird eingeladen, Teil des Bündnisses zu werden, ohne aber einen konkreten Zeitpunkt dafür zu nennen. Das sorgt für Kritik, teils massive Enttäuschung. Wolodymyr Selenskij, der ukrainische Präsident, nannte den Passus "absurd".
Plötner kann mit der Formulierung im Papier gut leben. Schritt für Schritt. Das war von Beginn der Verhandlungen an sein Ansatz.
Nochmal zurück ins Hotel in Vilnius. Es ist jetzt fast halb eins. Scholz redet und redet. Boris Pistorius, der Verteidigungsminister, kämpft mit der Müdigkeit. Plötner schleicht aus dem Raum. Es reicht jetzt. Er braucht mal Schlaf.