Für Joe Biden wird die Luft im Kampf um eine zweite Amtszeit dünner. Zwar gibt es in der Demokratischen Partei bislang keine offene Revolte gegen eine erneute Kandidatur des US-Präsidenten, doch hinter verschlossenen Türen wird Berichten zufolge fieberhaft diskutiert, wie man den 81-Jährigen zum Ausstieg aus dem Rennen ums Weiße Haus bewegen kann.
Biden soll würdevoll abtreten können
"Ich will ehrlich sein: Jeder geht auf Sendung und sagt all diese tollen Sachen, aber hinter den Kulissen herrscht totale Panik", erklärte der politische Analyst Van Jones im US-Sender CNN. "Die Leute reichen juristische Memos herum, PDFs fliegen auf Whatsapp hin und her, um herauszufinden, welche Optionen es gibt. Wie kann man Biden ersetzen? Wie kann man ihn dazu bringen, es so zu tun, dass er sich so respektiert fühlt, wie er respektiert werden sollte?"
Die Konversationen vor den Kameras und die Konversationen hinter den Kameras seien völlig unterschiedlich, berichtete der frühere Berater von US-Präsident Barack Obama. Tatsächlich werde sogar bereits darüber gesprochen, wen die aktuelle Vizepräsidentin Kamala Harris als ihren Vizekandidaten mit in den Kampf gegen Donald Trump nehmen soll, wenn sie für Biden nachrückt.
Jones lobte Biden als "großartigen Kandidaten", die Demokraten müssten aber verantwortungsvoll entscheiden, was der beste Weg nach vorne sei. "Wir haben jemanden, der dieses Land liebt. Wir haben jemanden, der alles – ich meine alles, bis zum letzten Tropfen – für dieses Land gegeben hat", sagte der 55-Jährige. Er verstehe deshalb, dass die Leute Biden verteidigen und schützen wollen und dem Präsidenten den Raum und die Würde geben wollen, seine eigene Entscheidung zu treffen. "Aber er wird vielleicht nicht in der Lage sein, die Ziellinie zu überqueren. Und eine mündige Partei muss das berücksichtigen."
Genau das geschehe zurzeit, erklärte Jones. Es finde gerade eine große Diskussion darüber statt, wie man Biden ersetzen könne, nicht ob.
"Der Damm bricht"
Ähnliche Schilderungen wie die von Jones hört man auch aus anderen Quellen: Der US-Nachrichtenseite "Axios" berichteten mehrere demokratische Mitglieder des Repräsentantenhauses, dass sich gerade am Mittwoch viel bewegt habe: "In den letzten Stunden höre ich von Abgeordneten, dass sie Joe wirklich lieben, aber wollen, dass er zurücktritt", sagte ein Parlamentarier. Ein anderer erklärte: "Der Damm bricht."

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Einen weiteren Parlamentarier zitiert "Axios" mit den Worten, Biden solle "zurücktreten und dabei helfen, den Übergang der Kandidatur zu leiten" und dass eine "sehr große Mehrheit der Fraktion diese Meinung teilt". Ein vierter Abgeordneter sagte der Nachrichtenseite, die Demokraten im Repräsentantenhaus seien in dieser Woche von nervösen Wählern und Interessenvertretern in ihren Bezirken "überschwemmt" worden: "So viele Leute sagen uns, dass er nicht gewinnen kann, dass er sich zurückziehen muss."
Laut "Axios" haben die Abgeordneten sich "mit der Unvermeidlichkeit abgefunden", dass die Demokraten einen neuen Kandidaten brauchen, und sich für Vizepräsidentin Harris als Biden-Ersatz entschieden. Den Quellen zufolge kursiere unter den Abgeordneten ein Briefentwurf, in dem Biden zum Rücktritt aufgefordert wird, und dies sei "alles, worüber man spricht". Auch das US-Medienhaus "Bloomberg" berichtet von diesem Brief.

CNN meldet, dass in der Demokratischen Partei ein Nachfolgeplan Gestalt annehme, wonach der Präsident seine Unterstützung, seine Wahlkampfkasse und seine Delegierten sofort Harris zur Verfügung stellt. Damit solle verhindert werden, dass die Partei durch einen Kampf um die Nominierung gespalten wird.
Gouverneur deutet möglichen Ausweg an
"Es gibt das, was öffentlich gesagt wird, und das, was hinter verschlossenen Türen passiert", bestätigte am Donnerstagmorgen die US-Korrespondentin des Deutschlandfunks, Doris Simon, in ihrem Radiosender. Wenn die Öffentlichkeit nicht dabei sei, werde bei den Demokraten darüber gesprochen, was zu tun sei, wenn Biden seine Kandidatur zurückzieht.
"Es gibt dieses wirklich fühlbare Bemühen in der Partei, den Präsidenten, der nicht nur im Amt Dinge geleistet hat in den vergangenen Jahren, der von vielen Leuten auch wirklich geschätzt wird, von manchen sogar geliebt wird, den nicht zu beschädigen bei diesem ganz schwierigen Schritt."
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Ihr Plus: Harris wäre die erste Präsidentin in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Als schwarze Frau mit südostasiatischen Wurzeln dürfte sie insbesondere jüngere und diverse Wählergruppen ansprechen. Zudem setzt sie sich stark für den Schutz des Abtreibungsrechts ein.
Wie die Demokraten dieses Bemühen halbwegs erfolgreich umsetzen könnten, lässt sich aus den Äußerungen des Gouverneurs von Minnesota und Vorsitzenden der Vereinigung der demokratischen Gouverneure Tim Walz heraushören. Nach einem Krisentreffen mit Biden am Mittwochabend im Weißen Haus stellte sich Walz demonstrativ hinter den Präsidenten: "Die Gouverneure halten ihm den Rücken frei, und wir arbeiten zusammen, um das sehr, sehr deutlich zu machen", verkündete er.
Dann fügte Walz einen Satz hinzu, der andeutet, dass Biden einen Rückzug als persönliches Opfer zum Wohle der Nation verkaufen und so sein Gesicht wahren könnte: "Ein Weg zum Sieg im November ist die Priorität Nr. 1, und er ist die Priorität Nr. 1 für den Präsidenten."
Quellen: "The Hill", "Axios", "Bloomberg", CNN, Deutschlandfunk, "USA Today"