Herr Semsrott, ich muss Sie das fragen: Haben Sie auch 600.000 Euro in Tüten zu Hause wie Ihre Parlamentskollegin Eva Kaili?
Leider nicht. Es ärgert mich, aber als Satiriker bin ich wohl zu uninteressant, um solche Angebote zu bekommen.
Sie sind angetreten als depressiver Politiker, den Kopf stets unter der Kapuze. Hat Sie diese Affäre noch trauriger gemacht?
Meine Reaktion darauf ist eigentlich absurd. Ich freue mich, weil mein trauriger Eindruck, den ich von dem ganzen Laden hier habe, gerade bestätigt wird. Das bedeutet für mich persönlich: Puh, ich spinne nicht, meine Antennen funktionieren richtig.
Nun ist auch ganz Brüssel in heller Aufregung. Unwillkürlich fragt man sich: Was ist jetzt eigentlich schlimmer – der Skandal oder die Tatsache, dass er öffentlich geworden ist?
Beides, je nachdem, welcher Gruppe sie hier in Brüssel angehören. Ich bin jedenfalls überhaupt nicht überrascht davon, dass so etwas passiert, sondern eher davon, dass es endlich mal aufgeflogen ist. Das politische System in Brüssel ist eigentlich darauf aus, wegzugucken und nicht genau zu kontrollieren.
Die Affäre bestätigt all diejenigen, die schon immer gewusst haben wollen: Sowieso alle korrupt!
Und genau das ist eben falsch! Die Mehrheit ist nicht korrupt. Aber natürlich gibt es zwei Gruppen von Betroffenen. Die einen haben Angst, erwischt zu werden, und die anderen, die engagierten Politiker, die aufrichtig enttäuscht sind. Es ist das Wesen von Korruption und Intransparenz, dass niemand ermessen kann, wer welcher Gruppe angehört.
Die Frage ist: Hat sich Frau Kaili nur besonders blöd angestellt oder ist das üblich?
Sie hat sich garantiert besonders dämlich angestellt. Andererseits muss man sagen: Hätte sie das gemacht, wenn sie damit gerechnet hätte, dass sie und ihr Lebensgefährte im Knast landen würden? Sie haben ein Kind, das ist gerade mal zwei Jahre alt. So kaltschnäuzig ist wohl niemand, dass er sagt, ich riskiere das mal.
Sie hat es trotzdem getan.
Weil sie davon ausgegangen ist, dass sie nicht erwischt wird. Dieser Fall ist für mich ein Beleg dafür, dass es eine Kultur für politische Korruption gibt, eine Kultur, in der Korruption normalerweise keine Konsequenzen hat, in der so ein Verhalten normalisiert wurde. Eva Kaili hat sicher nicht gedacht: Jetzt habe ich hier aber etwas komplett Verrücktes gemacht.
Also darf man die Tatsache, dass mehrere Beschuldigte nun im Gefängnis sitzen, als Zeichen dafür werten, dass die Kontrolle ausnahmsweise nicht versagt hat?
Man darf. Ich glaube, es lag auch an der speziellen Form dieses Falls. Hier waren so viele Menschen beteiligt, dass die Wahrscheinlichkeit aufzufliegen, einfach groß war. Und es handelt sich um einen Drittstaat, der unfassbar viel Geld für Imagepflege ausgibt, um es mal neutral auszudrücken. In der Summe war das vielleicht ein bisschen zu viel.
Eva Kaili hat offenbar sogar versucht, im Ausschuss eine Abstimmung über Visa-Erleichterungen für Kataris zu beeinflussen. Geht das wirklich so einfach im EU-Parlament?
Jein. Es ist ja gewollt, Einfluss geltend zu machen. Lobbyismus ist ja nicht per se schlecht. Im Gegenteil, ohne solche Interessensarbeit kann ein politisches System nicht funktionieren. Problematisch wird es, wenn der Auftrag der Wählerinnen und Wähler durch Geldzahlungen ausgehebelt wird. Bestechung ist antidemokratisch.
Wie groß ist die Verlockung?
Ich habe in meiner ersten Zeit in Brüssel mal das Experiment gemacht, ob man es schafft, sich eine ganze Woche nur auf Lobbytreffen kostenlos durchfüttern zu lassen. Die Antwort lautet übrigens: Von Montag bis Donnerstag wird man sehr gut satt, am Wochenende gibt es zu wenige Lobbyveranstaltungen. Mein Tipp: Am Donnerstag Tupperware mitbringen. Seitdem wissen eigentlich alle, dass ich dieses Lobbysystem kritisch sehe.
Sind Sie sicher, dass Sie immun wären oder ist es am Ende nur eine Frage des Preises?
So zwischen fünf und zehn Millionen? Im Ernst, wir leben im Kapitalismus, letztlich ist alles eine Frage des Preises. Habe ich Verständnis dafür? Natürlich nicht. Ich habe gestern mal aus Spaß unter meinen Sitznachbarn eine Umfrage gemacht: Was ist euer Preis? Alle haben gesagt, das könnte ich mir nicht leisten.
Man könnte den Eindruck gewinnen, Brüssel hat sich den Lobbyisten längst ergeben oder gibt es noch Gegenwehr?
Es gibt 30.000 Lobbyisten in Brüssel. Bei dieser großen Zahl lässt sich mit statistischer Sicherheit sagen, dass es zu Korruption kommt. Und sie wird gefördert, wenn unfassbar viel Geld auf zu wenig Transparenz trifft. Es heißt jetzt immer: Strengere Transparenzmaßnahmen hätten so einen Fall nicht verhindert. Ich bin mir da nicht so sicher. Wenn man als Politiker wirklich davon ausgehen muss, dass man im Zweifel auch im Knast landet und alles verliert, dann überlegt man sich das doch zweimal.
Dabei gibt es auf EU-Ebene vorbildliche Regeln, wie etwa den legislativen Fußabdruck, der anzeigen soll, wer welchen Einfluss auf die Gesetzgebung ausgeübt hat. Hilft das nicht?
Es liegt nicht an fehlenden Regeln, es liegt an der Folgenlosigkeit von Verstößen. Wenn es Gesetze gibt, aber keine Polizei, dann sind die Gesetze egal. Ein Beispiel: Auf der Internetseite des Europäischen Parlaments soll jeder Abgeordnete eintragen, mit welchen Lobbyisten man sich getroffen hat. Aber niemand kontrolliert das. Zuständig dafür ist die Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. Die hatte ihr letztes Lobbytreffen angeblich vor anderthalb Jahren.
Also sind die Angaben freiwillig?
Im Prinzip ja. Wer nichts einträgt, bekommt irgendwann eine automatische Mail der Präsidentin mit der Aufforderung, das nachzuholen. Das ist die schlimmste Strafe. Manfred Weber hat in der gesamten Legislaturperiode noch kein einziges Treffen angegeben. Der CSU-Mann ist Chef der konservativen EVP-Fraktion und hat sich angeblich kein einziges Mal mit jemanden aus der Wirtschaft getroffen? Das halte ich für verdächtig.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlägt die Gründung einer Ethikkommission vor. Was soll das bringen? Die Fifa hat auch eine Ethikkommission.
Und die katholische Kirche. Ich halte das für Taktik: Man tut so, als würde man etwas unternehmen, sorgt im Prozess aber dafür, dass die Kommission zahnlos bleibt. Wissen Sie was wirklich sehr rasch Wirkung erzielen könnte? Ein generelles Verbot von Nebenverdiensten.
Sollten EU-Parlamentarier gar keine Nebeneinkünfte mehr haben dürfen?
Sie kriegen als EU-Abgeordneter im Monat über 9000 Euro brutto und fast 5000 Euro für Spesen. Wofür brauchen Sie da einen Nebenjob? Das öffnet Korruption doch Tür und Tor. Warum müssen Nicola Beer von FDP und Rainer Wieland von der CDU, neben ihrem Amt als EU-Parlamentsvize auch noch Partner in Anwaltskanzleien sein? Welche Mandanten diese Kanzleien haben, wie viel und wofür sie Geld bezahlen, das wird niemand je erfahren.
Das klingt nach einer heftigen Unterstellung.
Moment, ich unterstelle hier gar nichts. Ich sage nur, dass dieses Modell, gerade weil es so intransparent ist, geeignet dafür wäre, Einkünfte zu verschleiern. Ich sage nicht, dass es in diesen konkreten Fällen so ist.
Sie stellen damit aber jeden Anwalt, der seine Mandate nicht offenlegt, automatisch unter Generalverdacht?
Generalverdacht wäre es nur, wenn die Hierarchie umgekehrt wäre. Wenn ein Innenministerium alle Menschen überwacht. In einer Demokratie müssen sich Mächtige das Vertrauen der Bürger:innen verdienen. Und das schafft man nur mit Transparenz.
Das freie Mandat ist Ihnen egal?
Man hat die Wahl: Macht, unfassbar gute Diäten samt Spesen oder einen gut bezahlten Job in der Wirtschaft? Beides zu vereinen ist absurd. Ein Parlamentsvize hat eine 80-Stunden-Woche. Wann wollen die denn einen Nebenjob machen? Ich bin jetzt dreieinhalb Jahre im EU-Parlament. Ich muss sagen, je länger ich hier bin, desto härter werde ich in meinem Urteil.