Es hat reichlich lange gedauert, bis die SPD-Führung endlich bemerkt hat, dass im derzeit gültigen Wahlrecht ein erheblicher Machtfaktor steckt. Und geradezu fahrlässig hat sie ein verfassungsrechtliches Problem verdrängt, das sehr wohl über ihre künftige Machtbeteiligung entscheiden kann: das Problem der Überhangmandate.
Überhangmandate fallen an, wenn eine Partei in einem Bundesland mit den Erststimmen mehr Direktmandate erreicht, als ihr nach den Zweitstimmen zustünden. So könnte die CDU im September in Baden-Württemberg alle 37 Wahlkreise direkt gewinnen, weil die SPD sich auch noch der Konkurrenz durch die Linkspartei erwehren muss und daher so gut wie keine Chance hat, einen Wahlkreis direkt zu erobern. Selbst das chronisch "rote" Mannheim vielleicht nicht. Schon 2005 hatte die baden-württembergische CDU vier Überhangmandate erobert und damit die CDU/CSU-Fraktion stärker gemacht als die SPD-Fraktion. Bei der bevorstehenden Wahl könnte sich nach Schätzungen aller Wahlrechtsexperten die Zahl der Überhangmandate für CDU und CSU zwischen 11 und 25 bewegen. Forsa-Chef Güllner hatte schon im Februar gegenüber stern.de einen klaren Vorsprung der Union bei diesen Mandaten prophezeit.
Die SPD wacht auf
Erst dann jedoch hat SPD-Chef Müntefering sich zum ersten Mal zu dieser Machtfrage wehklagend geäußert. Reichlich spät. Denn bereits im Juli 2008 hatte das Verfassungsgericht eindeutig entschieden, dass die Vergabe vom Überhangmandaten verfassungswidrig ist. Der Umstand, dass die Richter in den roten Roben gleichzeitig eine Frist zur Änderung des Wahlrechts bis zum Juni 2011 eingeräumt hatten, scheint die Genossen eingeschläfert zu haben. Vermutlich lag es daran, dass sie es 2005 vor allem gewesen waren, die vom derzeit gültigen Wahlrecht profitiert hatten. Denn damals bekam die SPD neun Überhangmandate, die CDU sieben. Doch schon zum Jahresanfang war allen Wahlrechtsexperten und Demoskopen klar, dass bei der kommenden Bundestagswahl vor allem die Union profitieren würde.
Doch geschehen ist nichts. Jetzt steht die SPD vor der extrem machtpolitisch zugespitzten Frage, ob sie diese Woche im Bundestag eine Kampfabstimmung gegen den Koalitionspartner wagen soll (besser: muss), wenn sie sich wenigstens die Chance bewahren will, erneut als Juniorpartner einer Großen Koalition mitregieren zu dürfen. In einem solchen Kraftakt steckt hohe Brisanz. Denn der Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU legt fest, dass man auf keinen Fall gegen den Partner zusammen mit der Opposition stimmen darf, es sei denn die Abstimmung ist zuvor freigegeben worden. Das ist hier nicht der Fall. Aber die Grünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht, dem die SPD zustimmen könnte, um nicht durch die Überhangmandate von vornherein an weiterer Machtbeteiligung ausgeschlossen zu werden.
Da kleine Parteien wie die Grünen, die FDP und die Linkspartei keine Übergangmandate gewinnen können, stünde theoretisch eine sichere Mehrheit im Bundestag hinter einer schnellen Änderung des Wahlrechts bereit. Offen ist allerdings, ob die Liberalen mitmachen, denn sie müssten in diesem Fall mit dem heiligen Zorn ihres erhofften Partners für eine schwarz-gelbe Koalition rechnen. Aber selbst ohne die FDP könnte es zu einer rot-rot-grünen Mehrheit im Bundestag reichen.
Riskiert die SPD die Koalition?
Fragt sich nur, ob die SPD überhaupt die innere Kraft für einen derartigen Schritt noch besitzt. Ihr Fraktionsgeschäftsführer Oppermann hat sich bislang nur den Satz abgerungen, die SPD strebe keine "feindliche Mehrheit" an. Dabei ist längst klar, dass die Union nicht mehr an eine Änderung des Wahlrechts denkt, obwohl auch gewichtige CDU-Politiker wie Bundestagspräsident Lammert und der Innenpolitiker Bosbach nachdrücklich dafür plädieren. Es sei bedenklich sagen sie, wenn die Bundestagswahl auf der Basis eines verfassungswidrigen Gesetzes stattfinde. Dass dies so ist, bestreitet ernsthaft niemand. Eine Anhörung von Experten hat dies eindeutig belegt. Ebenso die Tatsache, dass man das neue Wahlrecht von heute auf morgen locker umsetzen könnte.
Vorausgesetzt man will, natürlich. Aber weshalb sollte dies die Union wollen - rein machtpolitisch gesehen? Schwierig wird es für die FDP. Soll sie ihre Wähler auffordern mit der Erststimme CDU zu wählen und nur mit der Zweistimme die eigene Partei? Das war beispielsweise leicht zu Zeiten der Fall, zu denen sich die Liberalen vor der Wahl zu ihrem aktuellen Koalitionspartner bekennen konnten. Dieses Mal jedoch ist die Entscheidung ein zwiespältiges Problem. Soll sie die CDU/CSU dadurch stärken, dass sie ihre Stammwähler zur Stärkung der Konkurrenz aufruft, aber gleichzeitig ihr numerisches Gewicht in einer schwarz-gelben Koalition reduziert, indem die Union mit Übergangsmandaten gestärkt wird?
Für die SPD muss allerdings eines klar sein: Nur wenn sie den machtpolitischen Mumm besitzt diese Woche eine Kampfabstimmung gegen die CDU/CSU durchzuziehen, besitzt sie noch eine kleine Chance, eine Fortsetzung der Großen Koalition zu erreichen.