Atomkraftdebatte Akw ade?! Warum es die Meiler wirklich nicht mehr (lange) braucht

Das Atomkraftwerk Leibstadt im gleichnamigen Ort im Kanton Aargau
Gefahr an der Grenze: Blick auf das Atomkraftwerk Leibstadt in der Schweiz vom deutschen Waldshut-Tiengen aus. Nahe der deutschen Grenze soll ein atomares Endlager entstehen
© Philipp von Ditfurth / DPA
Die Akw-Debatte geht in die nächste Runde. Eine Expertenkommission soll über die Laufzeit der Meiler entscheiden, lautet ein Vorschlag. Dass sich internationale Energieexperten bereits vor einem Monat geäußert haben, hat die deutsche Politik wohl überhört.

Am 15. April sollen die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet werden. So hatte es Kanzler Olaf Scholz letztes Jahr entschieden. Daran gab es im letzten Jahr nichts zu rütteln. Jetzt formiert sich wieder Protest auf der Oppositionsbank: Obwohl sich die Lage bei der Gasversorgung entspannt (Stand 2. Januar 2023), geht wieder die Angst um, die Energie könnte nicht ausreichen – schon gar nicht im kommenden Winter. Dabei hatten die Bundesnetzagentur, das Wirtschafts- und Klimaministerium sowie Energieexperten noch im November sämtliche Bedenken zerstreut. (Mehr dazu lesen Sie hier.)

Doch nun drängt die Union, das deutsche Stromsystem einem weiteren Stresstest zu unterziehen und die verbliebenen Atomkraftwerke auch im Jahr 2024 laufen zu lassen. "Stand jetzt muss man davon ausgehen, dass wir die Kernenergie auch im kommenden Winter brauchen werden", sagte der stellvertretende CDU-Vorsitzende Andreas Jung den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstagsausgaben). Damit sollen mögliche Notlagen abgewendet werden. Und: "Es passt nicht zusammen, dass die Ampel mindestens bis 2024 klimaschädliche Kohlemeiler reaktiviert, aber die CO2-sparenden Kernkraftwerke im Frühjahr 2023 definitiv abschalten will", sagte Jung.

Während die Grünen jeden Vorschlag in diese Richtung rigide abwiegeln, stimmt FDP-Mann Volker Wissing in den Oppositionskanon ein – mit einem offenbar diplomatischen Vorschlag: Eine unabhängige Expertenkommission solle über das Schicksal der Atommeiler entscheiden. Wissing verspricht sich davon eine fachliche Antwort darauf, "wie wir stabile und bezahlbare Energieversorgung sicherstellen können und gleichzeitig unsere Klimaschutzziele erreichen".

Dass es bereits so eine fachliche Antwort gibt, scheint dem Deutschen Bundestag im Weihnachtstrubel des vergangenen Monats irgendwie durchgerutscht zu sein.

Erneuerbare Energien mehr fördern, fordert die IEA

Mitte Dezember veröffentlichte die Internationale Energiebehörde IEA einen Bericht mit dem Titel "Wie die Europäische Union Erdgasengpässe im Jahr 2023 vermeiden kann". Darin enthalten sind "praktische Tipps", um mögliche Versorgungslücken zu füllen. "Wenn die Pipeline-Importe von Russland nach Europa 2023 auf Null sinken und der chinesische LNG-Bedarf auf das Niveau von 2021 steigt, dann tut sich in der EU eine ernste Versorgungslücke auf", warnen die IEA-Experten. Auch für Deutschland wächst dann die Konkurrenz auf dem LNG-Markt.

Deshalb lohnt sich auch für die deutschen Politiker ein Blick auf die Vorschläge der IEA:

  1. Energie effizienter nutzen: Die IEA fordert die EU dazu auf, besonders in öffentlichen Gebäuden und bei der Beleuchtung Energie zu sparen und Gebäude zu sanieren
  2. Erneuerbare Energien: Genehmigungsverfahren für den Ausbau erneuerbarer Energien-Projekte sollen gekürzt werden, erneuerbare Energien müssen stärker gefördert und für Investoren lukrativer gemacht werden
  3. Wärme elektrifizieren: Finanzielle Anreize für den Kauf von Wärmepumpen schaffen, Haushalte und Industrie beim Kauf und Einbau unterstützen
  4. Verhaltensänderungen bei den Verbrauchern fördern: Intelligente Zähler können Verbraucher mit Echtzeitdaten über ihren Gasverbrauch informieren, Heizungssteuerungen in gasbeheizten Gebäuden anpassen, Geräte der Verbraucher direkt effizienter gestalten

Die Maßnahmen umzusetzen würde die EU nach IEA-Angaben ungefähr 100 Milliarden Euro kosten. "Das ist weniger als ein Drittel der 330 Milliarden Euro, die in den letzten Jahren für Notfallpakete ausgegeben wurden, um Verbraucher vor hohen Preisen zu schützen", heißt es in dem Bericht.

Selbst wenn der Gasbedarf der EU im ersten Quartal 2024 wieder auf das Niveau der Jahre 2017 bis 2021 steigen sollte, würden die Reserven im April 2024 noch zu einem Drittel gefüllt sein. Voraussetzung ist natürlich, dass sich die EU nach den von der IEA vorgeschlagenen Maßnahmen richtet. Andernfalls wäre der Füllstand von 30 Prozent bereits Ende dieses Jahres erreicht, prognostiziert die Behörde.

Russische Invasion als Meilenstein für die Energieversorgung

Auch wenn die IEA eine Rückkehr zu Atomkraftwerken nicht kategorisch ausschließt – sie rechnet zumindest damit, dass die nukleare Stromerzeugung in der EU in diesem Jahr um zwei Prozent steigen wird – liegt die Zukunft in ihren Augen ganz klar auf den erneuerbaren Energien. Das belegen auch Statistiken, wonach die Kapazitäten für erneuerbare Energieressourcen in den kommenden vier Jahren so stark ansteigen dürften wie in den vergangenen 20 Jahren zusammen. Als Vorreiter listen die IEA-Experten aber nicht die EU-Staaten, sondern Großmächte wie China und die USA sowie weitere Länder Asiens und Südamerikas auf.

Einen treibenden Faktor sehen die Energieexperten in der Herstellung von Wasserstoff. Die Kapazitäten könnten laut IEA-Bericht in den nächsten Jahren um das Hundertfache steigen. Vorreiter sind hier vor allem Länder wie China, Australien, Chile und die Vereinigten Staaten. Auch das Interesse an Biotreibstoff könnte den Prognosen zufolge in den kommenden Jahren wachsen. Und bereits 2025 könnte Kohle als Hauptenergiequelle für Strom weltweit durch erneuerbare Energien wie Sonnenenergie abgelöst werden.

Auch die globale Klimaneutralität könnte so bis 2050 erreicht werden. Diese Entwicklung können auch auf Atomkraft fixierte EU-Staaten wie Deutschland nicht bremsen. Mehr als die Hälfte des europäischen Energiebedarfs wird über Importe gedeckt. In Deutschland sind es sogar mehr als zwei Drittel. Künftig dürfte der Anteil aus erneuerbaren Energiequellen steigen, wie die Daten der IEA zeigen. Und vielleicht ist das auch für Deutschland ein Ansporn, sich endgültig von den Atommeilern zu verabschieden. Denn aus Expertensicht wird es schon in naher Zukunft genug lukrative Alternativen geben.

Quellen: International Energy Agency, Umweltbundesamt, Eurostat, mit Material von AFP und DPA

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