Halb Europa steckt in der Krise, Griechenland spart sich kaputt, in Spanien bangen die Menschen um ihre Zukunft und gehen auf die Straße. In Deutschland dagegen boomt die Wirtschaft und bringt damit ein ganz anderes Problem mit sich: den vielbeschworenen Fachkräftemangel, ausgelöst durch den demografischen Wandel, noch befeuert durch den wirtschaftlichen Aufschwung.
Rund eine Million freie Stellen sind nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) derzeit zu besetzen – das sind gut 60 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Ärzte, Ingenieure, Pflegekräfte und Fachkräfte in der Industrie werden händeringend gesucht. Was liegt da näher, als in den EU-Krisenländern um ebendiese Fachkräfte zu werben? In Spanien sind 43 Prozent aller jungen Leute arbeitslos, in Griechenland fallen viele Jobs den Kürzungen zum Opfer, in Portugal emigrieren die Menschen reihenweise nach Brasilien und in die USA.
Die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit (BA) sieht hier ein brachliegendes Fachkräftepotential, das Deutschland zugute kommen könnte. In Spanien sollen Ingenieure rekrutiert werden, in Griechenland sind vor allem junge Ärzte interessant, in Portugal ließen sich Pflegekräfte für die immer älter werdenden Deutschen abwerben. In Spanien hat die ZAV bereits mehrere Informationsveranstaltungen und Rekrutierungsbörsen organisiert. In einem Zehn-Punkte-Plan stellt die BA in Aussicht, durch eine gesteuerte Zuwanderung könnten bis 2025 insgesamt 800.000 Fachkräfte nach Deutschland kommen. Doch ist diese Strategie realistisch? Durch immer neue Konzepte sollen im Ausland Arbeitnehmer angeworben werden – bislang nur mäßig erfolgreich. Und ist es moralisch überhaupt vertretbar, den darbenden europäischen Nachbarn die gut ausgebildeten Nachwuchskräfte wegzunehmen?
Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel
Im Juni hat das Bundeskabinett Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel beschlossen, darunter die Förderung der Integration und der Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte auch aus Nicht-EU-Staaten. Die Mindestverdienstgrenze für ausländische Akademiker soll von derzeit 66.000 auf 40.000 Euro brutto jährlich gesenkt werden. Ärzte und Ingenieure aus aller Welt sollen es künftig leichter haben, in Deutschland zu arbeiten.
Dem Mangel an Pflegekräften hoffte die Bundesregierung außerdem durch Arbeitssuchende aus Lettland, Polen und Litauen beizukommen. Von der seit Mai geltenden Freizügigkeit auch für osteuropäische Arbeitnehmer profitiert der deutsche Arbeitsmarkt bisher allerdings kaum. Im ersten Monat haben sich nach IAB-Angaben lediglich 10.000 Beschäftigte aus den acht EU-Beitrittsländern um eine Stelle in Deutschland bemüht – nur rund 4500 mehr als vor dem Start der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der von einigen befürchtete Massenansturm ist ausgeblieben.
"Die Leute werden nicht massenhaft kommen"
Herbert Brücker, Migrations- und Arbeitsmarktexperte beim IAB, glaubt aus mehreren Gründen, dass die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte allenfalls allmählich zunimmt. Zum einen sei Deutschland im Ausland nicht eben als einwanderungsfreundliche Nation bekannt, in den vergangenen Jahren habe man sich vor zu viel Migration schützen wollen. "Es ist albern zu denken, dass die Leute jetzt massenhaft kommen, nur weil man einen politischen Hebel umlegt", meint der Wissenschaftler im Gespräch mit stern.de. Zuwanderungsströme reagierten außerdem träge auf neue Gegebenheiten – für Menschen, die mit dem Gedanken spielen, ihr Land zu verlassen, setzt diese Entscheidung einen langen Prozess voraus.
Und noch ein anderer Faktor spielt eine wichtige Rolle: Im Wettbewerb um ausländische Fachkräfte steht Deutschland in Konkurrenz zu anderen Industrienationen. Gerade angelsächsische Länder wie Großbritannien oder Australien – das räumt auch die ZAV ein – bieten ihren gut ausgebildeten Zuwanderern nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern gleichzeitig Sprachkurse, eine Wohnung, einen Job für den Partner und Betreuungsplätze für die Kinder. Die Sprachbarriere sorgt zusätzlich dafür, so sieht es Brücker, dass Arbeitslose aus Spanien und Portugal eher nach Frankreich oder Belgien ziehen, als nach Deutschland. 17.000 Spanier sind nach ZAV-Angaben an einem Arbeitsplatz in Deutschland interessiert, nach Brückers Ansicht dürfte dieses Potential aber kaum ausgeschöpft werden.
Ohnehin glaubt der Migrationsexperte nicht, dass der demografische Wandel hierzulande allein durch Zuwanderung aufgehalten werden kann. Langfristig müsse sich Deutschland auch für Absolventen und Fachkräfte aus Südosteuropa, dem Nahen Osten und Nordafrika öffnen.
Folgen für die Herkunftsländer
Die Frage, welche Lücken die abwandernden Ärzte und Pflegekräfte in die Versorgungssysteme ihrer Herkunftsländer reißen könnten, gerät in der deutschen Fachkräftemangeldebatte ins Hintertreffen. Von einem "Brain Drain" könne keine Rede sein, heißt es aus dem Arbeitsministerium. Viele junge Hochqualifizierte in Griechenland und Spanien fänden in ihrer Heimat keine Jobs und es stünde ihnen frei, in Deutschland zu arbeiten. Darüber hinaus setze die Politik aber immer noch darauf, mehr Frauen und ältere Menschen in Arbeit zu bringen. Auch Marion Rang von der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung betont, es handele sich nicht um eine "Abwerbung" von EU-Fachkräften, die ZAV informiere lediglich "über die Möglichkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt".
Kritik am Konzept der BA kommt dagegen vom Deutschen Pflegerat: Als "zutiefst unethisch und unmoralisch" bezeichnete Präsident Andreas Westerfellhaus das Abwerben von Pflegekräften aus Ländern wie Portugal gegenüber den Zeitungen der WAZ-Gruppe. Trifft die Prognose des IAB-Forschers Brücker zu, wandert ein Großteil der spanischen und portugiesischen Arbeitslosen aber ohnehin in andere Länder aus. Dann muss Deutschland sich nur noch bei den griechischen Patienten entschuldigen.