Mercedes R-Klasse Multitalent ohne Sex-Appeal

  • von Claudia Charles
Mehrfach gekreuzt und hoch gezüchtet präsentierte Mercedes die R-Klasse erstmals vor fünf Jahren - doch in Deutschland wollte kaum einer das Zwitterwesen fahren. Nun geht der Mischling runderneuert in die zweite Runde und hofft auf mehr Anerkennung bei den Käufern.

Is that a Mercedes?", fragt der Nachbar an der Ampel und lässt seinen Blick prüfend übers Fahrgestell gleiten. Ja, das ist ein Mercedes, auch, wenn man ihn auf den ersten Blick nicht einordnen kann: Limousine, Van, SUV? Die R-Klasse ist von allem ein bisschen und doch nichts so richtig. Vielleicht liegt es daran, dass diese Kreuzung aus Familienkutsche, Transporter und Geländewagen ihre Käufernische noch nicht gefunden hat.

Zumindest in Europa nicht. Etwa 100.000 Autos dieses Typs verkaufte Mercedes seit der Markteinführung 2005, größtenteils gingen sie nach China und in die USA. Im Reich der Mitte wird die R-Klasse gern als Alternative zur S-Klasse gefahren, auf dem Rücksitz vorn der Chauffeur. Und in den Staaten ist der Allrounder Allzweckwaffe für Hockey-Mums, die ihre Kids samt Kameraden zum Training kutschieren. Doch in Deutschland konnte sich bisher kaum einer für das Auto erwärmen - noch nicht. Denn eigentlich sprechen viele praktische Gründe für diese Allzweckwaffe. Und nach dem Facelift, das ab dem 18. September verkauft wird, auch keine optischen mehr dagegen.

Buchten statt Parklücken

Die Schnauze ist zugespitzt, der Frontgrill aufgestellt, das Heck optisch verbreitert: Die neue R-Klasse wirkt dynamischer und aggressiver - ein bisschen mehr M-Klasse, ein bisschen weniger Kombi. Vorn ist sie so kantig, dass man dem Kennzeichen einen Knick verpassen muss, um es zu montieren. In den USA - Land der Herstellung und Vorstellung - ist das meist nicht nötig, denn die meisten Staaten fordern nur ein Nummerschild und das sitzt dann hinten. So kann der Wagen dort sein blankes markantes Gesicht zeigen.

Überhaupt bilden weite Highways und auslandende Shopping-Mall-Parkplätze das natürliche Revier des Riesen. Stolze 4,92 Meter lang ist die "kurze" Version; ausgewachsen kommt die R-Klasse auf 5,19 Meter. Dafür bracht es Buchten statt Parklücken, an innerstädtische deutsche Garagen wagt die Fahrerin kaum zu denken. Auch nicht mit optionaler Rückfahrkamera. Ebenso sollte die Höhe von 1,67 nicht unterschätzt werden: Ist der Kofferraumdeckel erst einmal offen, muss frau schon auf die Zehenspitzen, um ihn wieder zu schließen.

Bis zu 2385 Liter Kofferraumvolumen

Dafür bietet der Kreuzer Platz, viel Platz. Menschen, Tiere, Waren, alles kann zuhauf transportiert werden. Bis zu sieben Insassen haben selbst in der dritten Reihe noch Beinfreiheit. Bestellt man die R-Klasse als 5-Sitzer in der langen Version, erhält man 2385 Liter Kofferraum - das sind "plus zwei Golf-Kofferräume", wie Produktmanager Alfons Hierhammer stolz vorrechnet. Ob Weihnachtsbaum oder Biergarnitur, hier kann man alles einfach reinlegen.

Im Innenraum ist die R-Klasse dann wieder typische Mercedes-Limousine: Vier Executive Chairs, ledernes Multifunktionslenkrad und sechsfach CD-Wechsler kommen in Serie, Panoramaschiebedach, Unterhaltungssystem und Totwinkelassistent wahlweise. Auf den Vordersitzen genießt man Rundumsicht durch riesige Schreiben, während man die lieben Kleinen supersicher auf den Rücksitzen wähnt.

Mehr Cruiser als Sportwagen

In den Staaten fällt man mit dieser Größe inmitten von bulligen Jeeps und ausladenden Pick-ups nicht weiter auf. Doch im Gegensatz zu diesen fährt man in der R-Klasse wie auf einem Luftkissen. Schlaglöcher in Kratergröße? Werden gar nicht wahr genommen. "Wir wollten den Reisekomfort der Oberklasse mit der Variabilität einer Großraumlimousine und den Traktionsvorteilen eines SUV verbinden", so Hierhammer bei der Vorstellung. Das ist gelungen.

Bei den in New Jersey maximal erlaubten 105 Stundenkilometern brummt der Motor des getesteten R 350 CDI leise vor sich hin; träte man durch, wäre man in 7,7 Sekunden von null auf hundert. Aber das täte man nicht nur in den USA nicht, dafür ist die R-Klasse zu sehr Cruiser und zu wenig Sportwagen. Auch, wenn der 350 CDI im Vergleich zum Vorgänger mit 265 PS immerhin 41 PS mehr hat und dabei mit 8,5 Litern in der Norm 0,8 Liter weniger Diesel verbraucht. Etwas sparsamer, 7,6 Litern auf 100 Kilometer, ist der R 300 CDI BlueEfficiency; etwas umweltfreundlicher der R 350 BlueTec, der schon heute die für 2014 vorgesehene Abgaswerte nach EU-6-Norm erfüllt. In den USA und China allerdings stehen eher die fünf Benziner in der Käufergunst.

Neun verschiedene Grundversionen

"Variabilität" lautet das Motto dieses Wagens, und das gilt nicht nur im Bezug auf seine Einsetzbarkeit sondern auch auf die Auswahl. Insgesamt stehen neun verschiedene Grundversionen zur Auswahl. Ob Diesel oder Benziner, 6- oder 8-Zylinder, Heck- oder Allradantrieb, langer oder kurzer Radstand mit sieben oder fünf Sitzen - die Wahlmöglichkeiten sind riesig.

Die Kosten für das Einsteigermodell R 300 liegen bei 50.099 Euro; den kleinsten Diesel gibt es für 50.932 Euro. Und das ist nicht gerade günstig für einen Vernunftskauf, denn das ist der R8. Wahnsinnig praktisch, extrem vielseitig und inzwischen auch schön anzusehen. Aber irgendwie auch unentschlossen. Das Herz schlägt nicht schneller bei jemandem, der eigentlich von einer S-Klasse träumt, einen SUV geil findet oder einen Kombi braucht. Dass die R-Klasse vieles kann, ist ein Vorteil - dass sie vieles ist, eher ein Hindernis.

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