Kostenlos Bus und Bahn fahren, in der Stadt und auf dem Land. Stressfrei und gratis per Nahverkehr zur Arbeit und zum Einkaufen gelangen - und vielleicht ein gutes Buch während der Fahrt lesen. Ein Traum für viele, die sich mit ihrem Auto ins tägliche Verkehrschaos stürzen, weil sie sonst kaum in einer realistischen Zeit ihren Arbeitsplatz erreichen.
Kein Wunder, dass ein Vorschlag der Bundesregierung, den öffentlichen Nahverkehr künftig kostenlos anzubieten, am Dienstag, nur wenige Tage nach dem Ende der Verhandlungen zur Großen Koalition, hohe Wellen schlug. Dieser Vorschlag steht in einem Brief, den Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) am vergangenen Sonntag an EU-Umweltkommissar Karmenu Vella schrieben. Darin erörtern die drei deutschen Spitzenpolitiker verschiedene Pläne, durch die die Luft in Deutschland künftig sauberer werden soll.
Doch ein Traum wird es wohl bleiben, das liegt an den Umständen, unter denen das Schreiben entstand. Der Hintergrund der Aktion: Aus Brüssel droht Deutschland eine Klage, weil seit Jahren in vielen Städten Grenzwerte beim Ausstoß von Stickoxiden überschritten werden. Zudem drohen in Deutschland gerichtlich erzwungene Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge. Eine wichtige Quelle für die als gesundheitsschädlich geltenden Stickoxide ist der Autoverkehr - vor allem Dieselfahrzeuge.
Kostenloser Nahverkehr? Es geht um etwas ganz anderes
Es geht in dem Brief also vor allem darum, Fahrverbote und Verfahren aus Brüssel abzuwehren. Und schon allein bei der Lektüre des Schreibens fällt auf: Ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr ist nur eine von vielen Ideen, die dort aufgezählt werden – und die drei Briefeschreiber haben nicht die Absicht, ihn flächendeckend in absehbarer Zeit in Deutschland einzuführen.
Sie schlagen vielmehr ein ganzes Bündel von Neuerungen vor: Da geht es um Schadstoffgrenzen für Busse und Taxis, um emissionsarme Zonen für den Schwerverkehr in den Innenstädten, um Steuervorteile für schadstoffarme Fahrzeuge – und eben auch um einen kostenfreien öffentlichen Nahverkehr, um die Anzahl der privat genutzten Fahrzeuge zu reduzieren.
Wie wirksam diese ganzen Pläne sind, solle in fünf "Modellstädten" getestet werden - und zwar in Bonn, Essen, Reutlingen, Mannheim und Herrenberg. Für alle, die es googeln mussten: Dieser Ort liegt etwa 30 Kilometer südlich vom Feinstaub-geplagten Stuttgart in Baden-Württemberg. Im Klartext: Eventuell könnten diese Orte künftig testweise einen kostenlosen Nahverkehr bekommen. Wann, steht in den Sternen. Und: Ob die Pläne auf andere Regionen ausgeweitet werden, erst recht.
Trotzdem war das Echo auf die Idee, Busse und Bahnen kostenlos anzubieten, riesig. Woher soll das viele Geld dafür kommen, fragten die einen. Der Deutsche Städtetag erwartet von der Bundesregierung "eine klare Aussage, wie das finanziert werden soll", sagte etwa deren Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Aus Hamburg kam eine anschauliche Schätzung: Die dortigen Verkehrsbetriebe rechneten vor, dass bei einem kostenlosen Nahverkehr der Steuerzahler die etwa 830 Millionen Euro jährlich aufbringen müsse, die durch Fahrscheinverkäufe erzielt werden. Das sei etwa eine Elbphilharmonie pro Jahr. Das berühmte – und wegen seiner ausufernden Kosten jahrelang umstrittene - Hamburger Konzerthaus kostete insgesamt knapp 800 Millionen Euro.
Unsere Busse und Bahnen sind schon jetzt oft viel zu voll
Sogar Umweltschützer reagieren skeptisch: Die Deutsche Umwelthilfe monierte, das Schreiben enthalte an keiner Stelle eine klare Zusage, sondern erneut "wolkige Ankündigungen". Zwar sei ein möglicher kostenloser Nahverkehr ein richtiger Schritt. "Nur muss dazu auch die über Jahre kaputtgesparte Infrastruktur passen."
Auch der Nabu findet: Theoretisch sind kostenlose Busse und Bahnen eine gute Idee, würde dies doch helfen, den privaten Verkehr zu reduzieren. Doch die Vorgeschichte des Briefes stimmt den Naturschutzbund skeptisch: Es gehe der Regierung vor allem darum, Fahrverbote zu vermeiden – nachdem man den Dieselskandal kaum aufgearbeitet habe. "Im Grundsatz traut man sich nicht, den Autoherstellern auf die Füße zu treten", sagte Daniel Rieger, Referent Verkehrspolitik bei der Umweltschutz-Organisation, dem stern. Nötig seien jetzt zunächst Hardware-Nachrüstungen, um Autos sauberer zu machen – und Fahrverbote für die dreckigsten Diesel.
Fraglich sei im Moment auch, ob unser Nahverkehr überhaupt deutlich mehr Passagiere verkrafte. "Die S-Bahnen sind ja oft schon am Limit", nannte Umweltschützer Rieger als Beispiel. Zudem sei es für Menschen, die auf dem Land wohnen, oft unmöglich, auf Busse oder Bahnen auszuweichen. Die Infrastruktur sei an vielen Orten zu schlecht ausgebaut.
Auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) sieht das so. Zugausfälle, Verspätungen und übervolle Züge zu Stoßzeiten seien heute die Regel, kritisierte EVG-Vorsitzender Alexander Kirchner. "Das ermuntert niemanden, das Auto stehen zu lassen, selbst wenn die Fahrt mit dem Nahverkehr nichts kostet."
Teuer – und unrealistisch – so muss man die Idee eines flächendeckenden kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs wohl bezeichnen. Realistisch hingegen bleibt der Druck aus Brüssel: Die EU-Kommission will im März entscheiden, ob sie gegen Deutschland und andere Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof klagt. Es drohen hohe Strafgelder. Ob gegen die Misere dieser Brief nach Brüssel hilft, bleibt zumindest spannend.
