Krieg in der Ukraine Nach kontroverser Papst-Äußerung – sind Verhandlungen mit Putin unausweichlich?

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Ukraine: Auch für den 122 mm Mörser wird die Munition knapp.
© Efrem Lukatsky / DPA
Wegen seines Aufrufs, Verhandlungen möglichst schnell zu beginnen, steht der Papst in der Kritik. Dabei hat Franziskus nur ausgesprochen, was seit Wochen hinter vorgehaltener Hand zu hören ist: Ohne eigene Erfolgsoffensive muss Kiew zwangsläufig sein Heil in der Diplomatie suchen.

Ist die Lage wirklich so dramatisch, dass Kiew in Verhandlungen einwilligen sollte, die letztlich zum Abtreten großer Teile des Landes führen würden? Wenn moralische Kategorien beiseite gelassen werden, ist die Frage nach Verhandlungen beziehungsweise dem richtigen Zeitpunkt dafür einfach zu beantworten: Für Kiew wäre es klug, keine Verhandlungen zu führen, solange davon ausgegangen werden darf, dass sich die eigene Position im Kriegsverlauf noch bessert. Je siegreicher die Truppen, desto erfreulichere Ergebnisse würde man durchsetzen können. Das war auch die Hoffnung, von der sich die Sommeroffensive nährte. Damals dachte man, Kiews Truppen würden bis zum Meer vorstoßen und die russisch besetzte Zone durchtrennen. 

Nach so einem Triumph hätte Putin womöglich in einen Frieden nach den Bedingungen der Ukraine einwilligen müssen. Das ist, wie man nun weiß, nicht eingetreten, schlimmer noch: Die Lage der Ukraine hat sich nach den gescheiterten Vorstößen und dem russischen Vorgehen über den Winter um einiges verschlechtert. Der Ruf nach Verhandlungen wirkt vor diesem Hintergrund nur rational, jedenfalls für all jene, die Kiew eine neuerliche Wende nicht zutrauen. Moralisch fragwürdig bleibt er natürlich.

Der Präsident sagt, man habe die Front stabilisiert 

Die Situation an der Bodenfront ist bedrückend. Nach dem Fall von Awdijiwka konnten die Russen zwar keinen ganz tiefen Einbruch erzielen, drücken die Ukrainer aber unaufhörlich zurück. Um sie aufzuhalten, setzt Kiew seine besten Truppen ein. Doch die können den russischen Vormarsch nur weiter verzögern, ein eigener operativer Erfolg ist ihnen nicht gelungen. Präsident Selenskyj ließ aufhorchen, als er sagte, die Lage habe sich stabilisiert. Das ist nämlich allenfalls die halbe Wahrheit, schließlich werden die Elite-Einheiten Kiews an der Front abgenutzt. Besonders augenfällig wird das an den Verlusten der M1 Abrams Panzer – bislang sind es vier Stück, was nicht nach viel klingt. Aber insgesamt hat die Ukraine eben nur 31 Stück erhalten. Zu den abgeschossenen Panzern kommen jene, die wegen technischer Probleme ausfallen. Bei den anderen West-Panzern – Challenger 2 und Leopard 2 A6 – sieht es ähnlich düster aus, nur eine Handvoll soll jeweils noch einsatzbereit sein.

Die Frage stellt sich also, wie lange Kiews Truppen dem russischen Druck noch standhalten können? Historisch gesehen ist das eine Situation wie in der Normandie-Schlacht nach der Landung der West-Alliierten in Frankreich, im Zweiten Weltkrieg. Wochenlang konnte damals die Deutsche Wehrmacht den Vormarsch der übermächtigen Alliierten aufhalten und verzögern, wesentlich begünstigt auch vom Gelände. Dabei wurden die Truppen durch die Luftüberlegenheit und die starke Artillerie der Briten und Amerikaner aber unentwegt geschwächt – bis irgendwann auch noch die letzte Reserve in der Front gebunden war und die Amerikaner aus dem Kessel ausbrechen konnten.

Wieviel Mann kann Kiew noch ausrüsten?

Kiew sieht sich mehreren Problemen gegenüber. Es fehlt an Soldaten, das Land wird kriegsmüde. Die Verteidiger, die schon lange an der Front sind, sollen endlich ausgetauscht, dafür weitere 500.000 Personen einberufen werden. Angeblich will man auch die unfaire, teils korrupte Praxis der Einberufung ändern. Aber es ist mehr als fraglich, ob das gelingt. Eine halbe Million Soldaten, das hört sich gewaltig an. Nur müssten diese Massen zuerst einmal ausgebildet werden und später auch ausgerüstet werden. Im eigenen Land wird Kiew jeweils 50.000 Mann ausbilden können. Anders als bei den Freiwilligen des ersten Kriegsjahres dürften diesmal vielen Rekruten militärische Vorkenntnisse fehlen, die Ausbildung würde mindestens zwei Monate brauchen, vielleicht länger. Zuvor war auch im Ausland ausgebildet worden. Wenn statt Freiwilliger nun unwillige Rekruten in die EU geschickt werden, gibt es keine Gewähr, dass die sich dort dem Dienst nicht entziehen. Die 500.000 Mann dürften daher selbst im besten Fall nur nach und nach an der Front auftauchen.

Dort benötigen sie Ausrüstung – nicht nur Panzer, sondern auch Lkw, Stiefel, Schutzwesten und anderes Material. Derlei ist für 500.000 Mann gerade schlichtweg nicht vorhanden. Derzeit dürfte der Zustrom an Artillerie, Kampfpanzern und weiterem Gerät aus dem Westen nicht mal die Verluste ausgleichen, die Kiew seit dem Sommer 2023 erlitten hat. In ukrainischer Zählung entsprechen 50.000 Mann etwa zehn neuen Brigaden, nicht einmal für sie wird Material aus dem Westen bereitgestellt. Umgekehrt gelingt es Russland bislang, die eigenen Verluste nicht nur zu ersetzen, sondern die Armee zu verstärken. Und das ohne erneute und unpopuläre Mobilisierungswellen. Für den Dienst wird unentwegt geworben. Die PR-Kampagnen, im Westen gerne belächelt, verfangen in Russland mit ihrem Narrativ vom "Großen Vaterländischen Krieg 2.0", und dazu zieht Geld die Freiwilligen an. Putins Kassen sind gut gefüllt.

Das Geld ist knapp 

Kiew derweil es nicht nur an Granaten und Raketen, der Ukraine fehlt schlichtweg Geld. Nach zwei Jahren Krieg ist das Land wirtschaftlich am Ende, der Haushalt auf Hilfsgelder aus dem Ausland angewiesen. Auch wenn sich die Blockade in den USA ein wenig lösen sollte, ist es unwahrscheinlich, dass die Hilfe des großen Partners je wieder altes Niveau erreicht. Die Geberländer aus der EU müssten ihre Zahlungen stark erhöhen, um diese Lücke wenigstens teilweise zu schließen. Kiew benötigt Geld, um den normalen Haushalt zu bestreiten, um Renten und Schulen zu bezahlen. Nicht jede Million, die in der Ukraine ankommt, kann in Kampfkraft investiert werden. Und natürlich muss der Krieg finanziert, wollen Hunderttausende Soldaten besoldet werden. Der halbfertige Ausbau an Verteidigungsanlagen ist auch auf Geldmangel zurückzuführen. Hier steckt Kiew in einem Teufelskreis: Die neue Rekrutierungswelle wirft nicht nur Kosten auf, die 500.000 Mann werden auch dem Wirtschaftsleben entzogen.

Fehlende Entschlossenheit des Westens 

Der größte Schock nach der gescheiterten Sommeroffensive war das Erstarken der russischen Rüstung. Den westlichen Sanktionen ist es weder gelungen, Moskaus Exporte von Rohstoffen nennenswert zu behindern, noch Russlands Importe von Halbleitern und Werkzeugmaschinen zu stoppen. Das Ergebnis jetzt: In vielen relevanten Kategorien übersteigt die Produktion der russischen Rüstungsindustrie die des Westens um ein Mehrfaches. Der Verweis auf das kleine BIP Russlands hilft kaum weiter. Grundsätzlich könnte die Produktion in der EU und in den USA massiv gesteigert werden. 

In den USA kann der Präsident die zivile Industrie anweisen, in die Rüstungsproduktion einzusteigen. Das sind theoretische Möglichkeiten, die Kiew nicht weiterhelfen. So eine präsidiale Anweisung wird im Wahljahr nicht erteilt. Und selbst wenn Joe Biden im Weißen Haus bleibt, wird er in Zukunft wohl keinen Haushalt durch das Parlament bringen können, der große Opfer für die Ukraine vorsieht. Die EU-Staaten haben bei der Produktion von Granaten bisher versagt. Nun soll die Produktion hochgefahren werden, aber auch das geschieht mit Verspätung. Der russische Rüstungsoutput ist nicht statisch, er wird weiter gesteigert – wie will der Westen diesen Vorsprung aufholen? Eine echte Kriegswirtschaft, in der die Unterstützung der Ukraine absoluten Vorrang genießt, wird es in der EU nicht geben.

Keine Bodenoffensive in Sicht

Ja, die Ukraine kann Erfolge verbuchen. Mit Wasserdrohnen ist es gelungen, die russische Flotte aus weiten Teilen des Schwarzen Meeres zu vertreiben. Putins Luftwaffe erleidet Verluste, die nicht durch Neuproduktion aufgefangen werden. Dazu kann Kiew mit Drohnen immer wieder strategische Ziele in Russland angreifen. Derzeit versucht Kiew in der Region von Belgorod, auf russischem Gebiet offensiv zu werden – mit unklaren Aussichten. Tatsächlich wird die Ukraine in diesem Jahr in die Defensive gedrängt. Eine erneute Sommeroffensive ist nicht möglich, dafür müsste schon jetzt Ausrüstung bereitgestellt und Truppen aufgebaut werden. Sollte Trump tatsächlich erneut US-Präsident werden, wird es unwahrscheinlich, dass Kiew in den Folgejahren eine neue Offensivarmee aufbauen kann. Denn aus den USA kam in der Vergangenheit nicht einfach nur Geld, sondern Rüstungsgüter, die man woanders nicht beschaffen kann.

An der Front heißt die Losung daher "Durchhalten!" Doch selbst, wenn die Verteidigung meisterhaft durchgeführt wird, wird sie der Ukraine keinen Sieg bescheren. Dann würden die Truppen langsam zurückgedrängt, ohne dass es zu einem Kollaps der Frontlinie kommt. Und jedes Jahr würden ein, zwei oder drei weitere Städte fallen. Russland kann diese Form des Krieges lang durchhalten, in fünf Jahren hätte der Kreml seine Kriegsziele auch im Schneckentempo erreicht. Kiew wird es dagegen immer schwerer fallen, der Bevölkerung die notwendigen Opfer abzuverlangen und die Unterstützung aus dem Westen zu organisieren. Die Ukraine braucht einen "Gamechanger", so dass sie zumindest partiell die Oberhand behält. Manche glauben, der Marschflugkörper "Taurus" hätte das Zeug dazu. Aber auch dann, nach einer Schwächung des russischen Nachschubs, wäre kein kompletter Sieg möglich, sondern wiederum auch nur eine Verhandlungslösung unter besseren Bedingungen. 

Partielle Erfolge vor Verhandlungen

Dem Papst kann man vorwerfen, dass er die Situation Kiews sehr dramatisch geschildert hat, so als stünde das Land kurz vor dem Zusammenbruch. Er sagte: "Schämen sie sich nicht, zu verhandeln, bevor es noch schlimmer wird. Verhandeln ist niemals eine Kapitulation. Es ist der Mut, das Land nicht in den Selbstmord zu führen." So negativ muss man die Situation nicht oder noch nicht sehen. Doch für die entgegengesetzte Lösung – Kiew muss nicht verhandeln, weil die Ukraine die Invasoren aus dem Land wirft – gibt es keinerlei Anzeichen. An Verhandlungen mit dem Aggressor wird kein Weg vorbeiführen.

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