Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage hat der Chef der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, zwei Videos "abgefeuert". Im ersten Video sprach der "Koch" mit "War Gonzo", Semjon Pegow, einem bei russischen Nationalisten hoch angesehenen Blogger. Pegow hat in allen Konflikten der letzten Jahre von vorderster Front berichtet, sein Fahrzeug wurde beschossen, er verletzt. Der glühende Nationalist macht es dem russischen Militär nicht leicht, schonungslos wird deren Versagen angeprangert. Im zweiten Video stakst Prigoschin zwischen den Leichen seiner Männer. Allzu viele müssten sterben, weil seine Truppen nicht genug Munition bekommen, lautet seine Anklage und es kommt eine Drohung hinzu. Der Wagner-Chef droht, seine Söldner am 10. Mai aus Bachmut abzuziehen. Der Kampf ohne Munition sei sinnlos.
Jewgeni Prigoschin, PR-Waffe und Volkstribun
Was steckt dahinter? Prigoschins Auftritte sind nicht zufällig, sie wollen eine bestimmte Reaktion bewirken. Eine andere, als der Westen gern vermutet. Prigoschin ist ein wüster Mann. In seinen Tiraden schießt er Schimpfwörter wie mit einem Maschinengewehr hinaus. Er ist Putins Volkstribun, nimmt kein Blatt vor dem Mund, zieht über die zivilen und militärischen Eliten Russlands her. Ist er ordinär? Gewiss, aber jeder Russe wird ihn verstehen. Das alles ist PR. Ein Feld, in dem sich Moskau schwertut. Im Vergleich zu dem gewandten Selenskij wirkt Putin so wie er auch ist: ein alter, kranker Mann, dessen beste Tage weit zurückliegen. Seine Generäle sind für die Welt von Social Media nicht geschaffen. Ihre Auftritte sind unfreiwillig komisch. Schwitzend und unbeholfen machen sie "Meldung". Das wirkt wie eine Zeitreise in die sowjetische Vergangenheit, wie eine Direktübertragung aus der Breschnew-Ära.
Prigoschin hingegen ist ein Landsknecht-Typ, ein Warlord. Er nimmt im Kreis der Kreml-Propaganda die gleiche Rolle ein, wie die russischen "Helden" der Kämpfe 2014/2015. Wie der exzentrische Kommandeur Igor Girkin, die Kommandanten "Motorola", Arseni Pawlow und "Givi", Mikhail Tolstykh. Und zugleich setzt Prigoschin die Moskauer Elite, ob zivil oder militärisch, unter Druck. Typen, die in ihren "fetten Mahagonibüros" säßen und keine Ahnung in der Front hätten, wie er schimpft, und die glauben würden, der Krieg sei nur ein Spiel, solange sie ihre verwöhnten Bälger da raushalten könnten.
Setzte die Eliten unter Druck
Was das wirklich für den Machtapparat des Kremls bedeutet, wird im Westen wohl nur die CIA wissen. Zu vermuten, ist, dass die Ausfälle von Prigoschin am Ende seinem Herrn, Putin, nützen, weil die Attacken die Optionen des Präsidenten gegen den Kreis der Mächtigen vergrößern. In Russland ist nach wie vor die Idee des "guten Zaren" präsent, beziehungsweise sie wird vom Kreml genährt. Militär und Verwaltung mögen unfähig und korrupt sein, doch Putin nicht – so der Irrglaube. Das ist jedenfalls der Tenor der Videos unzufriedener Soldaten, die sich über ihre Vorgesetzten, fehlende Waffen und anderes beschweren, dabei aber stets beteuern, wahre Patrioten zu sein und nur darum bitten, dass Putin ihnen helfe, den Krieg zu gewinnen.
Vorbereitung auf Kiews Offensive
In der Rede gibt es mehrere Passagen, die man im Westen gern hören wird. Etwa die Verluste der Russen und die Einschätzung, dass die Wagner-Gruppe wegen der vielen Toten einfach verschwinden wird. Was aber ist von der Ankündigung zu halten, aus Bachmut abzuziehen? Der Rückzug ist militärisch geboten. Die Stadtfläche von Bachmut ist fast komplett in russischer Hand. Aus Moskauer Sicht ist die Eroberung der Stadt eigentlich abgeschlossen. Eine weitere Schlacht im gleichen Stil eines Fleischwolfes in der nächsten Siedlung wäre derzeit höchst unklug. Denn Russland muss sich auf die ukrainische Frühjahrsoffensive vorbereiten, um sie aufzuhalten oder womöglich zu zerschlagen. Und dazu ist es notwendig, die kampfstärksten Truppen aus der Frontlinie zu ziehen und mit ihnen eine mobile Reserve aufzustellen. Die dann an den gefährdeten Abschnitten eingesetzt werden kann. Die Positionen der Wagner-Söldner könnten von zweitrangigen Truppen besetzt werden, die in diesem Raum nicht weiter angreifen würden, sondern nur ihre Stellungen halten müssen. Dann könnte Moskau den Wagner-Söldnern ein paar Tage Ruhe gönnen, ihre Einheiten könnten neu aufgefüllt und ausgerüstet werden. Danach hätte der Kreml eine Feuerwehr-Truppe, die zum Einsatz kommt, wenn es Kiews Soldaten gelingen sollte, die statischen Verteidigungslinien der Russen zu durchbrechen. Das kann aber nicht geschehen, wenn die Wagner-Söldner in Häuserkämpfen feststecken. Es ist unmöglich, sie schnell zu verlegen. Vor allem dann, wenn die ukrainischen Streitkräfte alles daransetzen, so eine Verlagerung zu verhindern. Für die Ukraine wäre es allerdings weit besser, wenn Putins-Elitetruppe weiterhin in Bachmut gebunden bliebe.