Krieg in der Ukraine Katastrophe im Donbass – der Kessel von Awdijiwka kollabiert

Ein Soldat in der Ukraine
Die verbliebenen Kämpfer in der Stadt in der Ukraine sind in einer verzweifelten Lage
© dpa
Zehn Monate dauerte der Kampf um Awdijiwka, nun bricht die Verteidigung zusammen. Die einzige Frage, die bleibt: Wie viele Männer kann Kiew aus der Stadt bergen? Und: Bleibt es bei nur einer Niederlage. 

Was ist geschehen? Den Russen ist es gelungen, die Stadt in der Mitte zu trennen. Ihre Truppen sind auf die Industriestraße vorgerückt. Dabei gelang ihnen auch ein besonderes Symbol: Sie pflanzten ihre Fahne exakt an der Stelle auf, an der sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Dezember hat ablichten lassen. Gleichzeitig rückten ihre beiden Umfassungszangen weiter vor. Der ukrainische Flaschenhals ist nur ein paar Hundert Meter breit.

In dieser akuten Krise beginnen die Ukrainer – endlich – ihre vorgeschobenen Stützpunkte zu räumen. Die alte Luftabwehrbasis im Süden und das Klärwerk im Westen. Beides sind schwierige Operationen, die Soldaten müssen sich kilometerweit zu Fuß über die stark verschlammten Felder kämpfen. Alles unter der Sicht der russischen Drohnen und beschossen mit allen Waffen.

Derzeit sieht es so aus, als würden die russischen Drohnen den Luftraum über dem Kampfgebiet dominieren. Damit ziehen sich die Ukrainer auf die zwei verbliebenen Strongholds zurück. Die Zitadelle, das sind die Hochhäuser in der Innenstadt, und die riesige Fabrik im Norden. Doch beide Stützpunkte sind von den Russen bereits voneinander getrennt worden. 

Die Aufgabe der entfernten Punkte hat zwei Ursachen. Die Vorstöße der Russen verlängern die Frontlinie, und Kiews Truppen sind immer weniger in der Lage, sie zu verteidigen. Der Rückzug verkürzt die Kampflinie, also haben die schwächeren Kräfte eher eine Chance, Widerstand zu leisten. Die Konzentration auf zwei Punkte hat aber auch einen schweren Nachteil: Die zusammengedrängten Verteidiger werden von Artillerie und Bomben zusammengeschossen.

Geordneter Rückzug zweifelhaft

Die Rücknahme auf die westlichen Positionen macht es zumindest theoretisch möglich, die Stadt doch noch zu räumen. Wie das geschehen soll, ist unklar. Die Felder in der Gegend sind aufgeweicht, selbst Infanterie kommt kaum voran. Eine Flucht über die Äcker wäre eine Katastrophe angesichts der russischen Feuerkraft. 

In diesem Krieg hat es auch immer wieder "Deals", also Verabredungen der Kriegsparteien, gegeben. Dafür scheint es in Awdijiwka zu spät zu sein, die Ukrainer können den Russen nichts mehr anbieten.

Der Rückzug auf die beiden Festungen führt dazu, dass die Russen Kontrolle über die restliche Stadt gewinnen. Gleichzeitig brechen sie in den Raum westlich der Stadt ein und sollen sich dem Dorf Lastochkyne nähern. Damit bleibt den Ukrainern in der Stadt als letzter Ausweg nur der Weg nach Sjeverne. Vor einigen Tagen wurde die 3. Separate Sturmbrigade, auch als Azow bekannt, nach Awdijiwka entsandt. Anstatt eine größere Offensive zu starten, die den russischen Würgegriff hätte aufsprengen sollen, sind das geringe Kräfte, die nur ausreichen, den nachlassenden Widerstand der Truppen ein wenig aufzubessern. Nun soll die 3. Sturmbrigade außerhalb der Stadt sein, um zu verhindern, dass die Russen Dörfer und Baumreihen westlich der Stadt erobern.

Entwicklung der nächsten Tage

Wenn diese Entwicklung so voranschreitet, werden die Russen den südlichen Teil des Kessels am Wochenende weiter eindrücken und komplett isolieren. Die Ukrainer werden dann auf die beiden Kernzonen Hochhäuser und Fabrik zusammengedrängt. Die Garnison in der Stadt besitzt nicht mehr die Kraft für einen geordneten Ausbruch. Das Absetzen in kleinen Gruppen ist wegen der russischen Drohnen nur unter Verlusten möglich. Um größere Gruppen aus der Stadt zu evakuieren, muss die Ukraine die kleinen Dörfer halten und temporär von außen einen Korridor in die Stadt freikämpfen.

Menetekel für Selenskyj

Die Niederlage in Awdijiwka ist eine Katastrophe für die Ukraine, mit weitreichenderen Folgen als der Fall von Bachmut. Die Stadt ist kleiner, wurde aber seit 2014 als Festung ausgebaut. Im Vergleich zum Fall von Bachmut haben die Russen ihre Feuerkraft stark erhöht. Kiew fehlt es an Artilleriemunition, aber auch bei Drohnen und schwere Gleitbomben besitzen die Russen eine drückende Überlegenheit. Dazu gelingt es ihnen, Awdijiwka fast komplett einzuschnüren, was eine Flucht der letzten Verteidiger eigentlich unmöglich macht. Entsprechend höher werden die Verluste sein.

Ukraine braucht einen Hoffnungsschimmer

Dazu hat sich die Stimmung in der Ukraine verändert. Auch aus Awdijiwka wird man Heldengeschichten präsentieren, von heroischen Kämpfern, die in den Bunkern der Kokerei ausharren. Dazu werden die russischen Verluste immer höher, die eigenen bescheiden angesetzt. Doch diese Narrative sind verbraucht. Und es fehlt ein wesentliches Moment: Das lange – viele meine allzu lange – Halten von Bachmut wurde damit begründet, dass der Wellenbrecher die Russen monatelang aufgehalten habe. Das Opfer der Kämpfer dort ermöglichte es, Truppen für die Gegenoffensive aufzustellen. Der Blick wurde von der Niederlage im Bachmut auf den kommenden Sieg im Sommer 2023 gelenkt. Gleichzeitig wurden einige Kommandooperationen in Belgorod gestartet, um der Welt eine Siegesstory zu präsentieren. 

Inzwischen lässt sich nicht leugnen, dass die Sommeroffensive 2023 ein Misserfolg war. Schlimmer noch, 2024 ist mit Befreiungsschlägen nicht zu rechnen, sie sind frühestens 2025 möglich. Die Parole lautet schlicht: durchhalten! Kiew kann immer noch eine weitere Stadt bis zum bitteren Ende halten. Aber das wird kaum reichen, der neue Generalstabschef muss Russland eine Niederlage am Boden beibringen.

Im Vergleich zu Bachmut gibt es weitere negative Unterschiede. Nach dem Fall von Bachmut waren die Russen komplett erschöpft. Sie konnten den Fall der Stadt nicht ausnutzen, Kiew konnte selbst die nächstgelegenen Dörfer halten. In diesem Jahr ist zu befürchten, dass Putin seine Angriffe fortsetzen und selbst aus dem Raum von Awdijiwka neuen Druck aufbauen wird. Obendrein drücken die Russen nicht nur bei Awdijiwka auf die Front. An neun Stellen spitzt sich die Lage zu. Auch wenn den Russen nicht alles gelingt, ist zu befürchten, dass der Fall von Awdijiwka nicht die letzte schlechte Nachricht bleibt. Bei Bachmut attackieren sie das Dorf Ivanivske. Ziel ist es hier, die beherrschende "Bergfestung" Tschassiw Jar – eine Stadt auf einem Höhenzug – zu umgehen und letztlich auszuhebeln. Im Norden im Raum von Kupjansk ist die Lage ebenfalls kritisch.

Krieg der Übersättigung

Nur an einem Teil der über 1000 Kilometer langen Front wird gekämpft. Das Ansetzen von mehreren Angriffsschwerpunkten verrät die Strategie der Russen. Sie träumen nicht von einem Durchbruch und wirklich tiefen Operationen. Sie versuchen die Verteidiger zu überfordern. Bislang gelang es Kiew die Front mit Truppen der zweiten und dritten Reihe zu halten. Bei russischen Angriffen wurden dann die Eliteformationen eingesetzt. Nun kalkulieren die Russen, dass Kiew diese Reserven ausgehen, wenn sie in immer mehr Abschnitten Großkämpfe initiieren.

Der Ukraine bleibt nur zu hoffen, dass diese Rechnung nicht aufgeht, und Putin der Nachschub und die Soldaten ausgehen. Aber um diesen intensiven Verschleißkrieg durchzuhalten, muss auf Seiten der Ukraine, der Mangel an Rekruten und Munition behoben werden. Doch selbst wenn wie durch ein Wunder die Rekrutierung und Ausbildung von Hunderttausenden von Soldaten anlaufen und die Hilfen aus den USA wieder einsetzen, bleibt eine Lücke der Finsternis von mehreren Monaten.

Die Schreibweise von Ortsnamen folgt Google Maps.

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