Liebe Frau Dr. Peirano,
meine letzten Freundinnen und Bekanntschaften haben mir vorgeworfen, dass ich bindungsgestört bin. Jede sagte natürlich etwas anderes, aber der Tenor war, dass ich mich nicht festlege, mir keine Gedanken über die Zukunft mache und beim Kinderthema ganz ausweichend werde. Ich gehe wohl Konflikten und Verpflichtungen aus dem Weg und bin jemand, der eher die Sonnenseiten der Beziehung will und dann geht, wenn es mal schwierig wird.
Mir ist das auch schon aufgefallen, ich weiß aber nicht, ob das für mich wirklich ein Problem ist.
Ich bin jetzt 42 und hatte nie eine längere Beziehung als zwei Jahre. Die Beziehungen werden aber in letzter Zeit eher kürzer, manchmal nur wenige Monate. Ich frage mich jetzt, ob und wie das mit meiner Geschichte zu tun hat. Meine Eltern waren sehr jung, als sie mich bekommen haben. Meine Mutter war 19, mein Vater 20. Beide haben dann mit mir studiert, gejobbt, sind gereist. Ich war immer woanders, manchmal auch monatelang bei den Großeltern oder bei Freunden.
Meine Eltern hatten beide viele Affären. Manchmal haben sie offiziell eine offene Beziehung geführt und dann verschwand meine Mutter mit einem ihrer Freunde oder Freundinnen im Schlafzimmer und mein Vater schlief auf dem Sofa. Mein Vater hatte mehrmals eine andere Beziehung und zog dann zu der anderen Frau, kam aber nach viel Streit und Drama doch zu meiner Mutter zurück. Eine Weile versuchten sie, einander treu zu sein, doch es gab immer heimliche Seitensprünge. Mein Vater hat auch mit der Schwester meiner Mutter geschlafen.
Ich habe als Kind immer dazwischen gestanden und nie verstanden, was los ist. Wann ist Frieden, und wann geht das Drama wieder los?
Meine Eltern haben sich manchmal lautstark angeschrien. Meine Mutter hat ständig die Taschen meines Vaters und sein Handy durchsucht. Es sind einige Paartherapien angefangen worden und kurz darauf gescheitert. Letztlich kamen die beiden lange nicht voneinander los. Erst vor vier Jahren hat mein Vater anscheinend dauerhaft den Absprung geschafft. Er lebt jetzt in Israel.
Ich bin sicher, dass meine Eltern damit zu tun haben, dass ich mich nicht binden kann/will oder Angst davor habe. Nur lohnt es sich, etwas dagegen zu tun? Und wenn ja, was würden Sie mir empfehlen?
Viele Grüße
Frederik Z.
Lieber Frederik Z.,
das Elternhaus ist die Schule der Liebe, und das in mehrfacher Hinsicht. Nirgendwo sonst erfahren wir hautnah, wie man in engen Beziehungen miteinander umgeht.
Dabei gibt es zwei wichtige Ebenen, die ein Kind spürt, beobachtet und am eigenen Leib erlebt.
Die erste Ebene ist: Wie lieben meine Eltern mich als Kind?
Sie beschreiben, dass Ihre Eltern bei Ihrer Geburt sehr jung waren und wahrscheinlich auch noch nicht bereit zu einem geregelten Leben, das das Kind in den Mittelpunkt stellt. Wahrscheinlich haben Sie als Baby und Kleinkind schon erfahren, dass Ihre Bedürfnisse öfters nicht erfüllt wurden. Kleine Kinder können ihre eigenen Gefühle noch nicht regulieren, sondern sie brauchen feinfühlige und beständige Erwachsene, die das für sie machen.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Kinder haben Bedürfnisse nach Nähe und Intimität, nach Essen und Trinken, nach einer sauberen Windel, nach Bewegung, frischer Luft, nach Spielen und Anregung, nach Ruhe und Trost. Manche Eltern können sich sehr gut auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einstellen und z.B. ein Kind liebevoll in den Armen schaukeln, damit es sich beruhigt.
Anderen Eltern fällt es schwer, sich auf ein Kind einzustellen und sich dabei auch selbst zurück zu nehmen. Ich habe mal auf einer Party ein noch nicht mal einjähriges Kind gesehen, das sich die Augen rieb und offensichtlich müde war. Die Eltern haben es auf den Schultern getragen, mitten in Menschenmengen, laute Musik und Zigarettenrauch hinein. Wenn es quengelte (weil es müde war), haben die Eltern ihm neue Anregung geboten und es wanderte von einem Arm zum anderen. Letztendlich haben sie es schreiend sich selbst überlassen.
Durch die täglich wiederkehrenden Erfahrungen mit unseren Eltern entstehen tief sitzenden Glaubenssätze, die auch noch im vorsprachlichen Alter entstehen können. Zum Beispiel: "Mir hilft eh keiner. Ich muss mich alleine durchschlagen" oder "wenn ich weine (und Schwäche zeige), werde ich beschimpft oder lächerlich gemacht." Im Kleinkindalter und später als Schulkind und Teenager prägen die Erfahrungen, die man mit den Eltern macht, die eigene Vorstellung davon, was eine Beziehung oder eine Familie bedeutet.
Ihre Eltern haben sich um ihr eigenes Leben gekümmert und sind ihren eigenen Impulsen gefolgt. Die Überlegung, wie gut sich das Ausleben der Impulse mit dem Wohl ihres Kindes (also Ihnen) verträgt, scheint nicht maßgeblich gewesen zu sein. Und so sitzen bei Ihnen wahrscheinlich viele tief gespeicherte Erfahrungen und Enttäuschungen, die sich als Glaubenssatz und Verhaltensmuster manifestiert haben: Bleib auf dich alleine gestellt, vertrau keinem und verlass dich auf niemanden. In Beziehungen wirst du nur im Stich gelassen.
Die zweite Ebene ist: Wie lieben meine Eltern sich gegenseitig?
Wir beobachten an der Beziehung unserer Eltern, was Liebe ist und wie sie funktioniert. Gehen die Eltern feinfühlig und unterstützend miteinander um, oder bekriegen sie sich gegenseitig? Vielleicht auch: Profitiert man von einer Liebesbeziehung oder leidet man unter ihr?
Ihre Eltern haben sich gegenseitig offensichtlich sehr verletzt und bekämpft.
Sicherheit, Geborgenheit, Beständigkeit und Vertrauen haben unter den vielen Affären und Trennungen Ihrer Eltern extrem gelitten, falls es diese Gefühle überhaupt gab. Ihr Vater hat mit der Schwester Ihrer Mutter geschlafen, Ihre Mutter hat selbst Affären zu Hause gehabt, aber Ihrem Vater ständig misstraut. Das sind Grenzverletzungen, die weh tun. Es gab ständig Streit und verlässliche Regeln fehlten. Auch durch diesen ständigen Konflikt Ihrer Eltern haben Sie gelernt: Vertrau keinem und verlass dich auf niemanden. Beziehungen können einen schwer verletzen, und letztlich halten sie auch nicht.
Das ist natürlich jetzt etwas grob beschrieben, aber ich gehe davon aus, dass Sie genau diese Lektion gelernt haben in Ihrem Elternhaus, der Schule Ihrer Liebe. Und dass diese gelernten Verhaltensmuster dazu führen, dass Sie Bindungen meiden, bei denen Sie wagen müssten, zu vertrauen und sich wirklich einzulassen.
Ich kann Ihnen ein paar Bücher zu diesem Thema empfehlen, damit Sie sich mit Bindungsstörungen und ihren Auswirkungen einlesen können.
- Dr. Carlotta Welding: Fühlen Lernen. Warum wir so oft unsere Emotionen nicht verstehen und wie wir das ändern können.
- Dr. Sandra Konrad: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten | Alte Lasten erkennen und sich erfolgreich von ihnen befreien
- Stefanie Stahl: Jeder ist beziehungsfähig: Der goldene Weg zwischen Freiheit und Nähe - Mit dem Konzept von "Das Kind in dir muss Heimat finden" zu einer erfüllten Partnerschaft
Nach der Lektüre würde ich Ihnen empfehlen, sich die Frage zu stellen, ob Sie in puncto Beziehungen zu Frauen so weiter machen wollen wie bisher. Schreiben Sie doch einmal die Vorteile auf, aber auch die Vorstellung, wie Sie in 10, 20 oder 30 Jahren leben werden, wenn Sie nichts verändern.
Oder würden Sie "eigentlich" gerne in einer vertrauensvollen Partnerschaft leben, mit allem, was dazu gehört? Mit verbindlichen Absprachen, regelmäßigem Austausch, vertrauensvollen Gesprächen und der Absicht, eine längere Zeit zusammen zu bleiben und auch an der Beziehung zu arbeiten? Was versprechen Sie sich davon?
Wenn Sie sich von dieser Idee angezogen fühlen, würde ich Ihnen eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie empfehlen, denn die tief sitzenden Muster werden sich von alleine nicht ändern.
Herzliche Grüße
Julia Peirano