"Ökozid" Getötete Tiere und verseuchte Natur – die vergessenen Kriegsopfer in der Ukraine

Ein beschossenes Auto steht auf einem Feld bei Cherson
Mitten im Nirgendwo: Ein beschossenes Auto steht auf einem Feld bei Cherson
© Evgeniy Maloletka / AP / DPA
Im Ukraine-Krieg leidet auch die Natur. Aktivisten sprechen sogar von einem "Ökozid". Aber wie schlimm hat es die Umwelt tatsächlich erwischt?

Ivan Rusev ist Wissenschaftler und leitet den Tuzly Estuaries National Nature Park, ein 280 Quadratkilometer großes Schutzgebiet in der Region Bessarabien im Südwesten der Ukraine. Seine tägliche Aufgabe: Am Strand der Schwarzmeerküste entlangzuspazieren, auf der Suche nach toten Delfinen. 44 Kilometer ist der Strandabschnitt eigentlich lang, letztes Jahr hat Rusev dort drei tote Meeressäuger aufgelesen. Jetzt, wo Russland Teile der Ukraine dem Erdboden gleichmacht, kann Rusev nur noch fünf Kilometer abgehen. Die Zahl der toten Tiere hat sich allerdings fast verzwölffacht: Ende August zählte Rusev 35 tote Meeressäuger.

Und das ist nur ein Bruchteil der Tiere, die durch die russische Invasion verendet sind. Im Sommer warnten Wissenschaftler vor "Tausenden" toten Delfinen. Dazu kommen Haustiere, die nicht gerettet werden konnten. Oder Nutztiere aus der Agrarwirtschaft, die unter dem Bombenhagel in ihren Ställen umgekommen sind oder mangels Ernährung verhungern müssen. Die Tiere sind dabei nicht die einzigen Leidtragenden.

Für die ukrainische Natur ist der Krieg ein einziges Desaster. Wälder, Gewässer, Sumpf- und Naturschutzgebiete werden seit dem 24. Februar mindestens genauso in Mitleidenschaft gezogen, wie die Städte und die Energieinfrastruktur – mit dem Unterschied, dass die Umwelt schneller auf die Liste der vergessenen Kriegsopfer landet. Eine Entwicklung, die vor allem Umweltaktivisten besorgt. "Die meisten Menschen achten auf den Verlust von Menschenleben und Schäden an der Infrastruktur, aber viele Menschen und sogar die Nationale Regierung vergessen Verluste und Schäden, die der Umwelt zugefügt werden", zitiert der "Guardian" einen ukrainischen Aktivisten.

Ganz egal ist der Naturschutz den Behörden vor Ort dann aber doch nicht. Beim Klimagipfel in Ägypten appellierte Wolodymyr Selenskyj an die Weltgemeinschaft, für das Klima könne man sich keinen weiteren Schuss leisten. Das ukrainische Umweltministerium zählt bislang über 2000 Fälle von Umweltzerstörung. Wie die Umweltorganisation WWF auf stern-Anfrage mitteilt, sind ungefähr drei Millionen Hektar Wald von den Kampfhandlungen betroffen. Das entspricht einem Drittel aller ukrainischen Wälder. Betroffen seien auch 20 Prozent der Naturschutzgebiete.

Kaum konkrete Zahlen über Artensterben

Welches Gebiet oder Ökosystem betroffen ist, unterscheidet sich nach Region. So teilt ein WWF-Sprecher dem stern mit, dass im Norden der Ukraine vor allem Wälder und Sümpfe, im Süden dagegen, insbesondere in den Regionen um Cherson und Saporischschja, vor allem Steppen- und marine Ökosysteme betroffen sind. Wie viele Wildtiere bei den Kampfhandlungen verendet sind, ist allerdings unklar. "Expert:innen müssten in die Kampfzonen gehen, um Erhebungen vor Ort zu machen. Das ist im Moment nicht möglich", teilt der WWF dazu mit.

Konkrete Zahlen liefert dagegen die non-profi-Organisation Ukraine Nature Conservation Group (UNCG), eine Gruppe von Wissenschaftlern und Aktivisten. Sie gehen davon aus, dass 20 in der ukrainischen Steppe lebende Arten wegen des Krieges verschwinden werden.

In einem vorläufigen Bericht haben sich auch die Vereinten Nationen der Umweltzerstörungen im Ukraine-Krieg gewidmet. Doch auch dort hapert es massiv an Detailinformationen. Selbst die Organisation Greenpeace weiß derzeit nicht Konkreteres zu berichten. Noch nicht, denn zum neuen Jahr 2023 soll ein Bericht zu den Umweltfolgen des Krieges in der Ukraine erscheinen, wie eine Sprecherin dem stern mitteilte.

Angriffe auf die Natur als Teil der russischen Kriegstaktik?

Unklar ist derzeit auch, ob es sich bei der Zerstörung der Natur um Kollateralschäden oder um russische Taktik handelt. Die Organisationen WWF und Greenpeace gehen davon aus, dass es sich um tragische Kriegsfolgen handelt. Eine gezielte Taktik wollen sie darin nicht erkennen. Dafür spräche zumindest das Völkerrecht. Sowohl ein Zusatzprotokoll der Genfer Konvention als auch das sogenannte Umweltkriegsübereinkommen verbieten Kriegstechniken, die die Umwelt langfristig schädigen. Auch Russland und die Ukraine haben den Vertrag unterschrieben.

Andererseits sind Putin und seine Truppen bisher nicht vor Kriegsverbrechen zurückgeschreckt. Gezielte Angriffe auf die Natur würden auch in die russische Kriegstaktik passen, wonach Moskau versucht, die Ukraine unbewohnbar zu machen. Ukrainische Aktivisten sprechen deshalb nicht nur von einem "Ökozid". Sie sehen diese "Umweltverbrechen" als Teil des russischen "Völkermordkrieges". Denn die Naturschäden wirken sich unmittelbar auf den Lebensraum der Ukrainer aus.

"Die Auswirkungen des Krieges auf die Natur können von dauerhafter Verschmutzung über den Verlust der Bodenfruchtbarkeit und der Lebensgrundlage der Menschen bis hin zur Zerstörung ganzer Ökosysteme gehen", schrieb der ukrainische Umweltexperte Dmytro Averin bereits im Juli im "Green European Journal".

Besonders Wälder und Flüsse leiden unter dem Krieg

Bestes Beispiel ist der Osten des Landes, dessen Gewässer bereits seit den Kämpfen von 2014 mit schädlichen Substanzen aus der dort ansässigen Industrie verunreinigt sind. Sorge bereitet etwa dem WWF der Siversky Donets, ein Nebenfluss des in Russland entspringenden Don. Der Siversky Donets quert eine von Kohleminen, Chemiefabriken und Metallindustrie geprägte Region. Die Donbas Water Company bezieht 80 bis 85 Prozent ihres Wassers aus dem Siversky Donets und seinen Nebenflüssen.

Doch schon seit 2014 ist das Wasser der gesamten Region kontaminiert. Grund dafür sind die Kohleminen, die im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen geflutet wurden und so die örtlichen Gewässer mit giftigen Substanzen kontaminierten. Mehr als sechs Millionen Ukrainer sollen laut WWF keinen oder nur noch eingeschränkten Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.

Auch die Waffen gefährden die Ökosysteme, entweder weil Bäume durch den Beschuss umkippen oder ganze Wälder durch Explosionen abbrennen. Für die Gewässer sind besonders toxische Metalle oder ausgelaufenes Öl problematisch. "Flüsse leiden am meisten unter Artilleriebeschuss, weil während der Angriffe militärische Ausrüstungsteile ins Wasser fallen und es kontaminieren", erklärt der WWF-Sprecher. Bis sich die Natur von dem Konflikt erholt, können nach WWF-Einschätzungen "bis zu Hunderten von Jahren" vergehen.

Video: AKW Saporischschja unter Beschuss - "Spiel mit dem Feuer"
AKW Saporischschja unter Beschuss - "Spiel mit dem Feuer"

Weiteres Sorgenkind: Die Region um das Atomkraftwerk Saporischschja. Vor allem die International Energy Agency (IEA) hat sich für eine Demilitarisierung der Zone eingesetzt, um eine Katastrophe wie in Tschernobyl zu verhindern. Noch haben sich die russischen Besatzer dazu nicht breitschlagen lassen, Greenpeace zeigt sich aber im Gespräch mit dem stern optimistisch, dass sich das bald ändert.

Die russische Quittung ist lang

Diese positive Einstellung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, was dieser Krieg die Ukraine kostet und noch weiter kosten wird. Schon jetzt ist die Rechnung für die Umweltschäden lang – auch finanziell. Im Oktober rechnete die Ukraine damit, dass die Kriegsschäden an der Umwelt bis zu 36 Milliarden Euro kosten werden. Die Regierung rechnet mit 25 Milliarden Euro für die Luftverschmutzung, weitere 11,4 Milliarde könnten dazukommen, um die Verwüstung des Bodens beseitigen zu können.

Ukrainische Aktivisten fordern deshalb, dass Russland auch für seine Vergehen an der Natur zur Rechenschaft gezogen wird.

"Krieg ist eine furchtbare Sache", findet der Wissenschaftler Ivan Rusev. Das Gleichgewicht der Natur wird sich seiner Meinung nach nicht so schnell wiederherstellen lassen – egal, ob Russland zur Rechenschaft gezogen wird und wie viel Geld für den Wiederaufbau des Landes bereitsteht.

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos