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Marktplatz Flucht aus Afghanistan: Unser Saigon-Moment

In kürzester Zeit hatten die Taliban Kabul erobert
In kürzester Zeit hatten die Taliban Kabul erobert
© Stringer/ / Picture Alliance
Die Vertreibung aus Afghanistan ist der Höhepunkt eines fatalen Verdrängungsprozesses deutscher Außenpolitik. Weitere Probleme kommen auf uns zu.
Horst von Buttlar

Es ist eigenartig, wie versunken die Post-9/11-Welt erscheint, mit ihrer Logik und Sicherheitsräson, die dieser Tage noch einmal so dramatisch aufscheint. Es war eine Welt ohne Angela Merkel als Kanzlerin, ohne Finanz- und Eurokrise, ohne Flüchtlingskrise, ohne AfD, ohne Facebook und Twitter, ohne Smartphone, ohne Chinas überwältigende Macht, ohne Brexit, ohne Russland als Paria-Staat, mit Diktaturen im Irak, Libyen und Syrien, das nicht im Bürgerkrieg war. Die Strategie des Einsatzes muss man freilegen wie ein Archäologe, um zu verstehen, was eigentlich einmal das Ziel dieses "ewigen Krieges" war.

Horst von Buttlar schreibt hier jede zweite Woche über Politik und Wirtschaft
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© Gene Glover

Umso tragischer ist nun, wie leichtfertig das Erreichte aufs Spiel gesetzt, ja, den Taliban ausgeliefert wurde. Deutschland ist mitverantwortlich für eine der größten strategischen Fehleinschätzungen der jüngeren Geschichte. Selbst wenn der Abzug richtig war, waren Tempo und Form – ohne Backstop, ohne Meilensteine – falsch. In 20 Tagen ist zerronnen, was in 20 Jahren aufgebaut wurde. Der afghanische Staat ist implodiert, er ist nicht mehr. Oder gab es ihn nie? War er eine Kulisse, ein Selbstbetrug, ein so fragiles Gebilde, dass es sich nie hätte allein tragen können? Wenn nun die deutsche Sicherheit nicht mehr am Hindukusch verteidigt wird, wo dann? Und heißt das auch: nie wieder?

Wer diese Fragen stellt, stößt auf einen Verdrängungsprozess deutscher Außen- und Verteidigungspolitik, in dem die Tragödie am Hindukusch nur der Höhepunkt ist. Schon die Rückkehr der letzten deutschen Soldaten im Juli war würdelos. Kein Empfang der Verteidigungsministerin, AKK weilte in den USA. Und dann der Streit, wo und wie es eine Zeremonie geben soll. Das alles war ein Symbol dafür, dass die Regierung im Kopf schon abgezogen war, nicht mehr bereit, politisches Kapital für diesen Einsatz bereitzustellen. Wer die Berichte von Soldaten las – Einsatzkräften der ersten Stunde und frischen Heimkehrern –, spürte Ernüchterung, Frust, Leere und eine gewisse Verlorenheit: das Gefühl, dass man schon vor geraumer Zeit von jenen verlassen worden war, die einst die Sicherheit am Hindukusch hatten verteidigen wollen.

Über zwei Jahrzehnte mehr Illusionen als Erfolge

Die Versäumnisse setzen sich fort: Seit Monaten wird gewarnt, dass Deutschland Tausende Menschen evakuieren muss, die etwas kühl als "Ortskräfte" bezeichnet werden. Zwar sind etwa 1900 inzwischen in Sicherheit, doch weitere Tausende fürchten um ihr Leben, während panisch Deutsche ausgeflogen werden. Wir erleben einen eigenen "Saigon-Moment".

Teil drei der Verdrängung und Verantwortungslosigkeit sieht man beim Umgang mit Flüchtlingen aus Afghanistan. Auch hier: Mahnungen seit Monaten. Immerhin, die Abschiebungen sind ausgesetzt. Die neue Regierung sollte sich vorbereiten: auf Flüchtlingswellen, auf neue komplizierte Abkommen mit der Türkei, vielleicht auch mit dem Iran und Pakistan.

Der fluchtartige Abzug des Westens aus Afghanistan setzt einen tragischen Schlusspunkt unter eine forcierte Strategie des "Nation Building" ab 2001, in der es über zwei Jahrzehnte mehr Illusionen als Erfolge gab. Was auch dazu führt, dass die meisten Länder im Westen, vornweg die USA, nicht nur kriegs-, sondern auch interventionsmüde geworden sind. Es gibt allenfalls noch begrenzte Mandate in Afrika, Europa hat genug an den eigenen Grenzen zu tun. Andere Mächte wie Russland oder China füllen das Vakuum.

Am Ende erleben wir schmerzlich das Interventionsparadox: jener Moment, in dem das Argument, man hätte den Einsatz verlängern müssen, ebenso richtig erscheint wie jenes, dass der Abzug nun richtig ist, weil der Einsatz von Anbeginn falsch war.

Was sicher ist: Deutschland bekommt jetzt einen Platz im Familiengrab der Nato, auf dem ewigen "Friedhof der Großmächte".

Erschienen in stern 34/2021

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