Sie haben kaum eine Chance und wollen sie nutzen. Auf fünf Prozent taxiert Manfred Stenner von der Friedenskooperative Bonn die Aussicht, dass es nicht zu einen Krieg gegen den Irak kommt. Die letzte Hoffnung: Großbritanniens Friedensbewegung mobilisiert Millionen Menschen und steigert den ohnehin ungeheuren innenpolitischen Druck auf Premier Tony Blair. Zwei Drittel der britischen Bevölkerung sind gegen eine Kriegsbeteiligung ohne UN-Mandat. Schon verweigern erste Kabinettsmitglieder Blair die Gefolgschaft.
An diesem Wochenende, ein Monat nach den weltweit
bisher massivsten Protesten gegen die Politik der US-Regierung, werden noch einmal Millionen Menschen in London, New York, Madrid, Rio, Sydney, Tokio und Berlin auf die Straßen gehen. Zwei Tage vor Ablauf des US-Ultimatums gegen Saddam Hussein, zwei Tage bevor in Bagdad vielleicht die ersten Bomben fallen. Ein letzter Ansturm der Straße gegen die Arroganz einer Militärallianz.
Ein Teil der Weltöffentlichkeit sitzt in Gestalt von Manfred Stenner in kariertem Flanellhemd in einem sehr unordentlichen Büro in einem sehr kleinen Haus in einem Bonner Hinterhof. Der 48-Jährige dreht seine Zigaretten selbst; dass es zu viele sind, zeigt die gelbe Fingerkuppe seines rechten Zeigefingers. Stenner, den sie hier "Friedens-Manni" nennen, wäre vielleicht Soziologe geworden, hätte er nicht nach den großen Nachrüstungsdemos im Bonner Hofgarten in den 80er Jahren den Job bekommen, der deutschen Friedensbewegung eine Struktur zu geben.
75 Organisationen und Persönlichkeiten finanzieren seitdem die Friedenskoopera-tive, die sich als eine Art Dienstleistungsagentur der Firma Protest & Co. versteht. Kirchliche Gruppen geben Geld, die Jusos, auch der grüne Bundesvorstand überweist noch jährlich 150 Euro.
Geschäftsführer Stenner sitzt bis zu zwölf Stunden
am Tag vor seinem Laptop und kann gleichzeitig reden und schreiben. Eine Motivation, sich für knapp 800 Euro netto im Monat selbst auszubeuten, ist seine Konsequenz aus der Lebensgeschichte des Vaters, eines Maschinengewehrschützen im Krieg gegen Russland. "Der hat bestimmt Hunderte Menschen auf dem Gewissen."
Stenner zählt zu den 15, 20 wichtigen Leuten in der deutschen Friedensbewegung. Sozialarbeiter, Ärzte, Lehrer, die nie das Träumen verlernt, das Hoffen nicht aufgegeben haben, Menschen in Bewegung zu setzen. In schlechten Zeiten hielten sie zu viert mit einem Transparent Mahnwache, heute bekommen sie, wie zuletzt in Berlin, eine halbe Million Menschen auf die Straße. Das Thema hat Konjunktur, die Sehnsucht nach Frieden füllt Plätze und Herzen. Keine Stunde, da nicht irgendwo in Deutschland, irgendwo auf der Welt gemahnt, gewacht, gebetet wird. Schülerdemos, Sitzblockaden, Hungerstreiks, und am schnellsten bewegt es sich im Land des Tony Blair.
"Die politische Elite unseres Landes repräsentiert längst nicht mehr das Volk. Das ist eine gefährliche Entwicklung für unsere Demokratie", sagt Andrew Burgin von der Stop the War Coalition, dem Dachverband der britischen Friedensbewegten. Seit Wochen kommt es im Vereinten Königreich täglich zu Aktionen von gewaltfreiem Widerstand. Lokführer aus dem schottischen Motherwell weigerten sich, einen Munitionstransport der Armee zu fahren. Friedensaktivisten besetzten eine Startbahn der Air-Force-Basis Brize Norton und legten für mehrere Stunden den Flugverkehr lahm. Auf der Fairford-Airbase wurden Kriegsgegner verhaftet, nachdem sie den Zaun des Flugplatzes durchschnitten hatten, um amerikanische B-52-Bomber zu blockieren.
In London belagerten Hunderte Schüler stundenlang die Einfahrt zur Downing Street. Blair gelangte nur über Umwege an seinen Schreibtisch. Gleichzeitig kippten Demonstranten Säcke mit Kuhfladen vor die Zentrale der Labour Party.
Manfred Stenner und seine Freunde
halten seit 20 und mehr Jahren durch. Ihre Beharrlichkeit zahlt sich aus in diesen Tagen. Die Aktivisten haben sich nie aus den Augen verloren und geduldig am Netzwerk geknüpft. Zu den Machern gehören Hochschullehrer Peter Strutynski mit seinem Friedenspolitischen Ratschlag in Kassel, die Ärzte von IPPNW zur Verhinderung eines Atomkriegs oder der Theologe Clemens Ronnefeldt vom Internationalen Versöhnungsbund, der in der 80ern zur Verstärkung der Cruise-Missile-Gegner aufs Dorf in den Hunsrück zog. Und die Katholiken von Pax Christi, die mit ihren 200 Basisgruppen aus dem Stand mehr als 10 000 Menschen mobilisieren können. Man hat sich gestritten und versöhnt, die Debatten sind geführt. Jetzt ist Demo-Zeit.
Das freut auch den altgedienten Ostermarschierer Willi van Ooyen, 55, in Frankfurt. "Die Durststrecke der vergangenen zehn Jahre ist überwunden", sagt der letzte Geschäftsführer der Deutschen Friedensunion (DFU). Die Partei ging 1960 aus der "Kampf dem Atomtod"-Bewegung hervor und wurde 1989 mit dem Fall der Mauer aufgelöst. Van Ooyen, Sozialist mit "gesundem Hang zur Anarchie", ist pädagogischer Leiter einer Werkstatt für Behinderte und sieht sich in der Tradition des deutschen Pazifismus. Er ist Mitglied der 1892 von der Schriftstellerin Berta von Suttner gegründeten Deutschen Friedensgesellschaft.
Jetzt rücken die Jungen nach.
Diplombiologe Christoph Bautz, 30, von der Globalisierungsbewegung Attac etwa. Er organisiert die Resist-Kampagne, gewaltfreie Sitzblockaden vor US-Militärcamps. Bautz wirkt ein wenig schüchtern, aber entschlossen. Er hat mit Freunden die Bewegungsstiftung gegründet; es sind junge Erben, die ihr Geld in eine bessere Welt investieren möchten. Bautz plant zudem eine Bewegungsakademie, eine Art Volkshochschule für Demonstranten.
Seit seiner Diplomarbeit über den Wendehals, eine Spechtart, die wärmeliebende Ameisen schluckt, hat er nicht mehr so viel gelesen wie in diesen Tagen. Über Weltwirtschaft, Rüstungspolitik, Politikstrategien. Bautz hält Vorträge, studiert die Konzepte von Mahatma Gandhi und Martin Luther King und vertraut bei seinen Blockaden auf die Erfahrungen der Atomkraftgegner, vor allem der Gruppe x-tausendmal quer um den Wendländer Jochen Stay. Schon vor drei Wochen setzte sich Resist mit 2000 Leuten vors Haupttor der amerikanischen Rhein-Main-Airbase. An diesem Samstag will man auch die Nebeneingänge blockieren. "Im August", sagt Bautz, "waren wir erst acht Leute, jetzt sind es über 7000, die unseren Aufruf unterzeichnet haben." Wachstumsraten, die Deutschland lange nicht mehr verzeichnet hat.
Bautz steht für das Zusammenwachsen der Antiglobalisierungskampagne mit der Umwelt-und Friedensbewegung. Nach einigen Jahren Pause ist auch Greenpeace wieder mit dabei, neu hinzugekommen ist der Deutsche Naturschutzring. Die Friedensbewegung war nie breiter aufgestellt: Die Sorge eint CSU-Rechtsausleger wie Peter Gauweiler, kommunistische Splittergruppen, die Deutsche Bischofskonferenz und Che-Guevara-Fans. Gauweiler flog am Samstag mit dem ehemaligen Verteidigungsstaatssekretär Willy Wimmer zu einem christlichen (Protest-)Gottesdienst nach Bagdad.
Mobilisiert wird heute per E-mail; von der Wucht der Bewegung sind selbst Internetfreaks überrascht. Software-Student Jan Sievers, 22, wollte auf seiner Website eigentlich nur lokale Proteste gegen den Krieg sammeln; jetzt ist aus seiner "tag-x.de"-Website ein nationales Forum geworden. Derzeit arbeitet Sievers an einer weltweiten Anlaufstelle im Netz. Über eine internationale Mailingliste stimmen 180 Aktivisten aus mehr als 30 Ländern alle Aktionen ab.
"Früher war der Protest eher lokal gebunden,
jetzt können wir erstmals eine wirklich globale Bewegung aufbauen." Amerikanische Demonstranten haben zum virtuellen Marsch auf das Weiße Haus aufgerufen und verstopfen mit E-Mails die Leitungen der Bush-Krieger.
Die Peace People in den USA sind vorbereitet auf den Tag X, wenn die ersten Bomben fallen. An diesem Tag wird etwa in New Jersey die Studentin Julie Fry, 23, mitten in der Vorlesung aufstehen und eine Antikriegsrede halten. Sie wird danach die Vorlesung verlassen und um Punkt elf Uhr mit einigen hundert Studenten der Rutgers University zu einer Protestkundgebung nach Manhattan fahren. Sie wird 1000 vorgedruckte Faltblätter dabeihaben und NBC ein verabredetes Interview geben. Um 17 Uhr wird sie am Times Square für eine zweite Demo eintreffen und mit einigen zehntausend oder gar hunderttausend Menschen gegen den Krieg marschieren. Der Zeitplan steht. Die Behörden sind informiert. Die Schichten vergeben. Es wird voll sein. Und bunt. Und laut. Nur eines nicht: spontan.
Die Antikriegskampagne in den USA gleicht einem durchorganisierten Wahlkampf. Sie setzt auf eingängige Slogans wie "Drop Bush not Bombs" und "Patriots for Peace". Die Organisatoren reisen nach Bagdad und London und haben es geschafft, aus einer weitgehend ignorierten Gruppe eine Massenbewegung zu machen, sodass selbst das konservative Massenblatt "USA Today" konstatiert: "Diese Leidenschaft hat es seit Vietnam nicht gegeben."
Die Demo-Macher wollen keine ideologischen Debatten
und zeitraubenden Diskussionen. Sie dulden Republikaner und selbst FBI-Beamte in ihren Reihen. Jeder wird gebraucht, jeder ist wichtig, für jeden ist in dieser Bewegung etwas dabei. Sie tragen sich ein für ein "local area emergency response event", als Organisator, als Redner, als Geldeintreiber. Sie haben unzählige Mailinglisten erstellt, sodass in jeder Schulklasse, in jedem Seminar, in jeder Firma einer sitzt, der auf dem aktuellen Stand ist. Ein Mausklick - und 1,3 Millionen Menschen sind informiert.
Eigentlich wollte sich Julie Fry in diesem Semester auf ihr Jurastudium konzentrieren, aber "wenn es um Krieg und Frieden geht, gibt es einfach andere Prioritäten", sagt sie. Vor kurzem war sie als "Waffeninspektorin" an einem Marinestützpunkt in Washington, um die "sofortige und bedingungslose Abrüstung Amerikas" zu überprüfen. An der Uni leitet sie Antikriegsveranstaltungen und wundert sich über den Zulauf von bisher völlig unpolitischen Leuten und konservativen Wirtschaftsstudenten, die einfach keinen Grund für diesen Krieg erkennen können und schlimme Folgen für die Wirtschaft befürchten.
Erstmals in der Geschichte des Musiksenders MTV belegt bei Umfragen ein politisches Thema Platz eins unter Jugendlichen: der Krieg. "Man hat immer von der unpolitischen Jugend gesprochen", sagt Julie Fry. "Wahrscheinlich müssen wir Bush dankbar sein. Hier wacht gerade eine ganze Generation auf." Julie nennt sie die "zweite Supermacht". So ähnlich formulierte das auch ein Kommentator der "New York Times". Es gebe, schrieb er, zwei Weltmächte: die USA und die Weltöffentlichkeit.
Uli Hauser Mitarbeit: Bernd Dörler, Ulf Schönert, Jan Christoph Wiechmann