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Österreich Der Fall Kellermayr: (K)Eine Lehrstunde für Politik und Behörden in hetzerischen Zeiten

Gedenken an die Ärztin Kellermayr
Trauer und Entsetzen sind groß: In Gedneken an Ärztin Kellermayr stehen Kerzen vor dem Sitz von Landesgericht und Staatsanwaltschaft in Wels
© Verena Leiss / APA
In Österreich treiben Impfgegner, Querdenker und Neonazis eine Ärztin in den Suizid. Welche Konsequenzen zieht Österreich nun aus dem Fall? Der stern hat nachgefragt – mit bitteren Erkenntnissen.

Der Fall Kellermayr hat sowohl in Österreich als auch in Deutschland Bestürzung ausgelöst. Lisa-Maria Kellermayr, Allgemeinmedizinerin mit eigener Hausarztpraxis an Österreichs größtem See, dem Attersee in Oberösterreich, hat sich selbst das Leben genommen. Eine Obduktion hat den Suizid der 36-Jährigen bestätigt. Warum sich die Frau umgebracht hat, ist unklar. Allerdings liegt der Verdacht nahe, dass sie dem Druck aus der Impfgegnerszene nicht mehr Stand halten konnte. Zudem drohte ihr die Privatinsolvenz. (Die ganze Geschichte lesen Sie hier.)

"Drohungen, Gewalt, Hetze sind absolut auf das Schärfste zu verurteilen, gerade auch wenn sie sich gegen medizinisches Personal und Ärztinnen und Ärzte richten", sagte Vize-Regierungssprecher Wolfgang Büchner am Mittwoch in Berlin. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft München, weil eine Spur nach Bayern führt.

In Österreich selbst hat der Fall eine Debatte über den Umgang mit Hass und Hetze im Netz, aber auch über Behördenversagen ausgelöst. Nun stellt sich die Frage nach den möglichen Konsequenzen. Geführt wird die Diskussion allerdings nicht von den zuständigen Stellen, also Polizei, Bundesinnenministerium oder der Regierung. Die halten sich auf Nachfrage bedeckt. Weder der Sprecher der östereichischen Bundesregierung, noch der Staatssekretär oder die Staatsanwaltschaft reagierten auf eine stern-Anfrage.

Aus dem Bundesministerium für Inneres hieß es lediglich: "Zum von Ihnen angesprochenen Fall kommuniziert ausschließlich die Landespolizeidirektion (LPD) Oberösterreich." Angefügt wurde ein Pressestatement der LPD. Die Frage nach möglichen Konsequenzen und Maßnahmen gegen Hasskriminalität ließ das Bundesministerium für Inneres unbeantwortet.

Die Polizei in Österreich macht keine Fehler

Die LPD in Oberösterreich bezeichnet den Vorfall in ihrer schriftlichen Antwort als "einen besonders tragischen Fall im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und der zunehmenden Radikalisierung in Wort und Sprache – insbesondere in den sozialen Medien." Allerdings seien bereits im Dezember 2021 bei einer Videokonferenz Gegenmaßnahmen entwickelt worden. "Auch Fr. Dr. Kellermayr wurde seit November 2021 polizeilich beraten", heißt es in dem Statement. Bei einem gemeinsamen Termin mit der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN) und der Polizei Oberösterreich sei die Sicherheitslage mit Frau Kellermayr besprochen worden. "Die polizeilichen Schutzmaßnahmen rund um die Ordination (die Arztpraxis, d. Red.) wurden drastisch erhöht. Dabei wurden alle gesetzlich möglichen Maßnahmen ausgeschöpft." Die Botschaft: Alles richtig gemacht. Dass die Maßnahmen aber weder die Bedrohungen gegen Kellermayr beendeten, noch den Suizid verhindern konnten, will sich offenbar niemand eingestehen.

Stattdessen geht der Pressesprecher nun so weit, einen Twitter-User zu verklagen. Bereits vor Wochen hatte der zuständige Sprecher Kellermayrs Bedenken mit der Aussage abgetan, die Ärztin habe sich in die Öffentlichkeit gedrängt, um "über die Medien das eigene Fortkommen" zu fördern. Ein Twitter-User wirft ihm nun vor "Blut an den Händen zu haben". Gegen ihn klagt der Sprecher nun.

"Fehler auch nur für möglich zu halten, geschweige denn einzugestehen, gilt in Österreichs Polizei als tabu", twitterte der grüne Nationalratsabgeordnete Georg Bürtsmayr (Grüne). Er kündigte Gespräche mit den Sicherheitssprechern aller Parteien an.

Besonders peinlich für die Behörden: Eine Netzaktivistin aus Deutschland recherchierte zu den Morddrohungen an Kellermayr und identifizierte innerhalb kürzester Zeit den Täter. Das kommt einer Bloßstellung der Behörden gleich, die laut österreichischen Medienberichten bei den Ermittlungen der Täter nach eigenen Angaben an technische Grenzen gestoßen seien. Die Nachrichten stammten den Angaben zufolge wohl aus dem Darknet, sodass deren Urheber nicht zurückverfolgt werden konnten. Der Hackerin ist das laut österreichischen Medienberichten allerdings gelungen. Die zuständige Staatsanwaltschaft wies die Informationen zunächst zurück und behauptete, die Erkenntnisse seien inhaltlich und technisch nicht nachvollziehbar. Zudem dürfe die Polizei nicht auf diese Art ermitteln – also Personen online kontaktieren und "deren nicht verifizierte Angaben" für die weiteren Ermittlungen nutzen.

Später behauptete die Behörde dann, die Arbeit der Hackerin ohnehin nicht beurteilen zu können, da man noch keine Beweisdokumente erhalten habe. Dem widersprach die Aktivistin nach Informationen des "Standard", woraufhin die Staatsanwaltschaft einräumte, das Material erhalten zu haben. Zudem habe die Aktivistin angeboten, mit den Behörden zusammen zu arbeiten.

Aufarbeitung, digitale Kompetenz – wann folgen Konsequenzen?

Die österreichische Ärztekammer fordert von der Regierung nun schärfere Gesetze, höhere Strafen und eine Bewusstseinsänderung. "Bedrohungen und Hass im Internet (sollen) nicht mehr leichtfertig als Kavaliersdelikt" hingenommen werden. Diese müssten von den Behörden auch konsequent verfolgt werden, sagte der Leiter des ÖÄK-Referats für Impfangelegenheiten, Rudolf Schmitzberger, im Ö1-Morgenjournal. Die Ärztekammer ergreift nun selbst Maßnahmen. In Wien startet ein Kurs zu Deeskalationsmaßnahmen mit einer Selbstverteidigungseinheit.

Eine Gerichtspsychiaterin, die Kellermayr in ihrem Abschiedsbrief erwähnt hat, geht nun so weit, den Sinn sozialer Medien in Demokratien zu hinterfragen. Es fehle ein "soziales Regelwerk in den 'asozialen Medien'". Soziale Hemmungen gingen durch die Anonymität im Netz verloren, die Angst vor Rechenschaft entfällt, kritisiert die Gerichtspsychiaterin.

Dass Menschen in Österreich derart mit Hass und Hetze im Netz konfrontiert werden, sollte eigentlich das Hass-im-Netz-Gesetzespaket verhindern. Es wurde im Herbst 2020 beschlossen. Nikolaus Forgó, Professor für Technologierecht an der Universität Wien, bezeichnet das Gesetz in einem Gastkommentar nun als Trümmerhaufen. Seine Einschätzung zu dem Gesetz und dem Fall Kellermayr: Bedrohungen im Netz verschwinden nicht, nur weil sie verboten sind. Jeder könne davon betroffen sein. Und: "Bei Hass im Netz geht es ums Netz. Wer ihn also bekämpfen will, muss auch etwas vom Netz verstehen." Forgó fordert eine digitale Grundbildung für alle, auch außerhalb des Schulunterrichts, damit auch die "Behörden ihr Nichtstun (nicht mehr) hinter angeblichen technischen oder rechtlichen Zwängen – Darknet hier, angebliche Datenschutzanforderungen da – verstecken können".

Yes, we care – aber wer denn jetzt genau?

Am Montag hatte die Organisation Yes we care eine Gedenkveranstaltung für die töte Ärztin Kellermayr vor dem Stephansdom in Wien organisiert. Daniel Landau, Lehrer, Bildungsaktivist und Sprecher der Organisation, hat Kellermayr Mitte Juli noch persönlich besucht. "Damals haben wir noch überlegt, wie die Situation ausgesehen hätte, wenn sie ein Arzt und keine Ärztin gewesen wäre", sagt Landau dem stern. Er glaubt, dass Frauen in solchen Fällen selten ernst genommen werden. "Dass die Polizei einmal am Tag an der Praxis vorbeipatrouilliert ist, kann angesichts der Bedrohungslage eigentlich nicht sein." Das müsse intern aufgearbeitet werden. Landau fordert, das Meldewesen umzugestalten. "In Österreich gibt es immer noch einen großen rechtsfreien Raum bei der Gewalt im Netz", kritisiert er und appelliert an Bevölkerung und Politik: "Mehr Achtsamkeit statt Hass."

Während sich Politik und Behörden also gekonnt unter dem Fall und der daran hängenden Kritik hinwegducken, reagieren deutsche Politiker zumindest mit deutlichen Statements. "Jeden Tag wird in den sozialen Netzwerken zu Gewalt gegen mich aufgerufen", sagte etwa Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Er werde deshalb besonders gut beschützt und bedauert, dass die österreichische Kollegin ihren Schutz selbst finanzieren musste.

Die zur Anzeige gebrachten Vorfälle müssten ernst genommen werden, strafbares Verhalten müsse konsequent verfolgt werden, so Vize-Regierungssprecher Büchner. Das Signal, das in diesen Tagen von Österreich ausgehe, sei: "Wir werden denen, die uns einschüchtern oder das tagtäglich versuchen, keinen Raum mehr geben." In Deutschland seien keine vergleichbaren Fälle bekannt.

Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek, fordert die Polizei dazu auf, "angesichts der besorgniserregenden Zunahme digitaler Straftaten zügig zu handeln". Es fehle aber an entsprechenden Ressourcen, personell wie bei der Ausstattung. Die fordert nun der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz, während sich Unionsfraktionsvize Andrea Lindholz für mehr Befugnisse im digitalen Raum aussprach. "Mit der Beschränkung der Sicherheitsbehörden auf das Abhören von Festnetztelefonaten wird man der Lebensrealität im Jahr 2022 einfach nicht gerecht", kritisierte die CSU-Politikerin.

Rat und Hilfe

Sie haben suizidale Gedanken? Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter (0800) 1110111 und (0800) 1110222 erreichbar. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich.  Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

Quellen: "Der Standard", ORF, mit Material von DPA.

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