Ein mutmaßlicher Straftäter sitzt auf der Anklagebank, neben ihm eine Horde Staranwälte. Er soll geheime Regierungsdokumente gehortet, Ermittlungen absichtlich behindert und Falschaussagen gemacht haben. Das läppert sich – zu insgesamt 37 Anklagepunkten aus sieben Kategorien. Dafür könnte er Jahre, gar Jahrzehnte hinter Gitter gehen. Der Mann ist 77 Jahre alt. Doch die Richterin, die über sein Schicksal entscheidet, kennt den Mann, der vor ihr sitzt – der Angeklagte gab ihr den Job.
Sie steht in seiner Schuld. Er plädiert auf nicht schuldig.
Was sich nach dem Klappentext des nächsten John-Grisham-Romans anhört, ist ein Blick in die Zukunft. Der Angeklagte: Donald John Trump, ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Richterin: Aileen Mercedes Cannon, Bundesrichterin im Southern District of Florida.
"Historisch", "beispiellos"; Die Adjektive zur Strafverfolgung in der Dokumentenaffäre überschlugen sich zuletzt. Nicht zu Unrecht. Noch nie wurde ein Ex-Präsident auf Bundesebene verklagt. Am Dienstag war Trump zur Anklageverlesung persönlich vor dem Gericht in Miami erschienen. Cannon war nicht da, ihre Arbeit beginnt danach.
Wie kann es sein, dass gerade in diesem Fall eine Richterin über das Schicksal ihres Gönners entscheidet?
Aileen Cannon: Bundesrichterin und Republikanerin
Cannon ist seit November 2020 Bundesrichterin im Southern District of Florida, einem von 94 Bezirksgerichten in den USA. Damit ist sie eine von mehr als 200, meist jungen konservativen Juristen, denen Trump während seiner vierjährigen Amtszeit den Richterhammer in die Hand gedrückt hat.
Der Präsident hatte die junge Frau kurz vor Ende seiner Wahlniederlage auf Lebenszeit ernannt. Bis dahin hatte Cannon nicht einen Tag als Richterin gearbeitet. Sie hatte gerade einmal zwölf Jahre Berufserfahrung als Juristin – das Minimum, dass für die Ernennung zum Bundesrichter erforderlich ist. Seit 2005 gehört sie der konservativen Juristenvereinigung "Federalist Society" an. Das "konservative und libertäre intellektuelle Netzwerk", wie es sich selbst nennt, steht der republikanischen Partei nahe. Cannon selbst ist Medienberichten zufolge Mitglied der Grand Old Party, kurz GOP. Auf Nachfrage der demokratischen US-Senatorin Dianne Feinstein, ob sie irgendjemand nach ihrer Nominierung nach Loyalität gegenüber Trump befragt habe, antwortete sie: "Nein".
Der Senat bestätigte sie später mit 56 zu 21 Stimmen – sogar zwölf Demokraten nickten sie ab. Dass Cannon einmal so wichtig werden würden, damit rechnete offenbar niemand auch nur ansatzweise.
Der Computer und die Richterlotterie
Die offensichtliche Frage zuerst: Warum wird die Causa Trump überhaupt in Miami verhandelt? Im Justizministerium wussten sie schließlich um das Risiko, dass in Florida eine Trump-Sympathisantin auf dem Richterstuhl landen könnte. Tatsächlich hätte die Staatsanwaltschaft den Republikaner auch in Washington anklagen können. Nur fand das FBI die geheimen Regierungsdokumente in Trumps Anwesen Mar-a-Lago, Palm Beach, Florida. Trumps Anwaltsteam hätte einen Prozess in Washington mit Sicherheit angefochten, aus Angst vor einer allzu liberalen Jury. Dass sich schon die Frage nach dem Wo in Länge zieht, wollte die Anklage offenbar tunlichst vermeiden. Denn Zeit ist entscheidend. Aber dazu später mehr.
Frage Nummer 2: Wie kann es sein, dass ausgerechnet jemand den vermutlich meist beachteten Strafprozess der letzten Jahrzehnte leitet, der dem Angeklagten seinen Job verdankt? Die einfache Antwort: Zufall. Im Southern District of Florida weist ein Computer jeden Fall nach dem Zufallsprinzip einem Richter zu. Laut dem leitenden Gerichtsschreiber, in dessen Büro die weise Maschine steht, kamen diesmal fünf Richter in Frage. Cannons Chancen seien allerdings etwas höher als die logischen 20 Prozent gewesen. Denn einige ihrer bisherigen kamen aus Palm Beach – wo auch das Anwesen eines gewissen Ex-Präsidenten steht. Das mochte der Computer. Der Rest ist Glück. Oder Pech. Je nachdem.
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Irgendwo zwischen befangen und unerfahren
Ganz abgesehen davon, ob Cannon denn nun befangen ist oder nicht, gibt es ein anderes Problem: Die 42-Jährige hat kaum Erfahrung mit der Leitung von Strafprozessen. Schließlich enden fast alle Bundesverfahren mit einem Vergleich und sehen nie einen Gerichtssaal von innen. In den zweieinhalb Jahren ihrer Ernennung hatte sie folglich wenig Gelegenheit zum Üben. Recherchen der "New York Times" zufolge hatte Cannon in ihrer gesamten Laufbahn mit 224 Strafverfahren zu tun – vier schafften es am Ende ins Gericht. In zwei davon war sie die Verteidigerin, in den anderen beiden war sie Assistentin der Staatsanwaltschaft. 14 Verhandlungstage saß sie insgesamt im Gericht. Ihr fünfter Fall dürfte deutlich komplizierter sein: Die Vereinigten Staaten von Amerika vs. Donald Trump.
Nun möchte man Cannon grundsätzlich keine Befangenheit unterstellen. Allerdings tut die Richterin recht wenig, um die Vorurteile ihr gegenüber zu zerstreuen. Im Gegenteil. Schon zu Beginn der Dokumentenaffäre hatte sie zugunsten des Ex-Präsidenten entschieden – auf völlig absurde Weise. Nachdem das FBI im August 2022 sein Anwesen Mar-a-Lago durchsucht und mehr als 100 geheime Regierungsdokumente gefunden hatte, forderte Trump, ein vom Gericht bestellter Experte ("Special Master") müsse die Dokumente erst einmal prüfen. Cannon gab ihm nicht nur Recht. Sie verbot den Ermittlern so lange "die weitere Überprüfung und Verwendung der in der Wohnung des Klägers beschlagnahmten Materialien". In ihrer Begründung deutete sie an, Trump müsse als ehemaliger Präsident besonders geschützt werden. Rechtsexperten aus beiden Lagern waren schockiert. Cannon griff aktiv in die Ermittlungen ein – was ihr nicht zustand. Das sah ein konservatives Gericht später genauso. Das Berufungsgremium aus drei Richtern – zwei davon waren ebenfalls von Trump ernannt worden – erklärte Cannons Entscheidung für nichtig. Cannons Entscheidung würde "die grundlegenden Grenzen der Gewaltenteilung" verletzen". Ob sie aus Sympathie oder aus Unwissen falsch geurteilt hat, weiß niemand. Der Schaden war allerdings angerichtet. Nicht nur, dass sie die Ermittlungen wissentlich verlangsamt hatte. Cannon hatte zumindest Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen lassen – nicht nur weil, sondern wie sie für Trump entschieden hatte.
Jury-Auswahl, Beweismittelzulassung, Freispruch: Was Cannon konkret für Trump tun könnte
Trotz des gelinde gesagt holprigen Einstiegs ist sie weiterhin für eines der wohl prominentesten Strafverfahren der jüngeren Geschichte verantwortlich. Sollte Cannon die Sache offenkundig verpfuschen, könnte ein Bundesberufungsgericht sie austauschen. Die Hürden dafür sind jedoch hoch. Ganz abgesehen vom richterlichen Skrupel, Kollegen abzuziehen. Natürlich könnte sie die Verantwortung auch jederzeit von sich aus abgeben. Würde sie das wollen, hätte sie es bereits getan – spätestens nach ihrem peinlichen Patzer im vergangenen Herbst. Kurzum: Dass der Fall doch noch bei jemand anderem landet, ist unwahrscheinlich.
"Sie hat wirklich die Fähigkeit, Chaos zu verursachen", sagte die ehemalige Bundesstaatsanwältin und heutige Rechtsprofessorin an der University of Michigan (Cannons Alma Mater), Barbara McQuade, gegenüber der "Washington Post". Aber: Was könnte Cannon denn konkret (an-)richten? Einige Beispiele, wie sie das Verfahren vor und während des Prozesses konkret beeinflussen kann:
- Als republikanische Lichtgestalt genießt Trump im konservativen Florida ohnehin schon Heimvorteil. Zwar sollten es am Ende nur "neutrale" Geschworene in die zwölfköpfige Jury (plus vier Ersatzleute) schaffen. Doch dürfte sich das bei einem politisch derart aufgeladenen Fall als nahezu unmöglich herausstellen. Cannon wird nicht nur für das Auswahlverfahren verantwortlich sein, in dessen Verlauf wahrscheinlich Hunderte Kandidaten geprüft und befragt werden. Ist eine der beiden Seiten am Ende mit einem Jurymitglied nicht zufrieden, entscheidet Cannon, ob der Geschworene ausgetauscht wird oder nicht.
- Die Bundesrichterin entscheidet auch über die Gültigkeit der Beweismittel. Sie kann Dokumente oder Zeugenaussagen unterdrücken. Zwar kann das Justizministerium ihre Entscheidung jedes Mal anfechten. Nur kann jede Berufung Wochen dauern. Und die Zeit steht auf Trumps Seite. Außerdem ist es an Cannon, welche Beweise die Gegenseite vorab einsehen darf, um sich darauf vorzubereiten.
- Apropos Zeit. Als zuständige Richterin kontrolliert sie den Zeitplan der Verhandlungen. Nun hat Zeit in diesem Fall eine ganz eigene Dimension, schließlich nimmt der Wahlkampf Fahrt auf. Zwar haben Angeklagte per Gesetz Anspruch auf ein zügiges Verfahren, das maximal 70 Tage dauert. Allerdings könnte Cannon das Verfahren zu Trumps Gunsten in die Länge ziehen. Womöglich so lange, dass sich Trump am Ende als erneuter Präsident selbst begnadigen könnte, zumindest theoretisch.
- Und dann wäre da noch ihr schärfstes Schwert, die berüchtigte "Regel 29" der Bundesstrafprozessordnung. Nachdem die Staatsanwaltschaft ihren Fall vollständig dargelegt und bevor die Jury ein Urteil gefällt hat, kann Cannon den Ex-Präsidenten in einem oder allen Anklagepunkten freisprechen – aus Mangel an Beweisen. Der Clou an der Sache: Gegen diese Entscheidung ließe sich nicht einmal Berufung einlegen.
"Im Zweifel für den Angeklagten", heißt es. Nun ist zu befürchten, dass Cannon erneut ihre ganz eigene Interpretation vornimmt. "Ohne Zweifel für den Angeklagten", zum Beispiel. Im Eid, den jeder Bundesrichter ablegen muss, heißt es: "Ich schwöre feierlich, dass […] ich alle Pflichten […] treu und unparteiisch wahrnehmen und erfüllen werde. So wahr mir Gott helfe." Auch Cannon versprach dies. Jetzt wird sich zeigen, an wieviel davon sie sich erinnert.
Quellen: "Guardian"; "New York Times"; "Politico"; "Washington Post"; "Los Angeles Times"; "Vox"; "CBS News" (Youtube)