Nach dem Nein der Niederländer herrscht in Europa Ratlosigkeit über die Zukunft des Vertragswerks. Das niederländische Parlament wollte noch am Donnerstag zu Beratungen über das Ergebnis des Referendums vom Vortag zusammenkommen. Dabei hatten 61,6 Prozent der Wähler gegen die EU-Verfassung gestimmt. Das Referendum war am Donnerstag beherrschendes Thema in der niederländischen Presse. "Ein vernichtendes Nein", titelte die Tageszeitung "Algemeen Dagblad". Der "Telegraaf" schrieb: "Ein felsenfestes Nein". Die Zeitung "Volkskrant" bezeichnete das Votum als "Abrechnung des einfachen Mannes" und schrieb weiter: "Die Niederländer waren schon immer Vorreiter in der Europäischen Union, aber jetzt ist der Klassenprimus zum anti-europäischen Rebellen geworden."
Der niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende sagte am Mittwochabend: "Das niederländische Volk hat gesprochen. Und das Ergebnis ist eindeutig. Natürlich bin ich sehr enttäuscht." Die Wahlbeteiligung lag mit 62,8 Prozent deutlich höher als erwartet. "Damit es klar ist: Wir werden dieses Ergebnis in vollem Umfang respektieren", sagte der Regierungschef. "Die Idee eines Europas war für die Politiker lebendig, aber nicht für das niederländische Volk. Das muss sich ändern." Balkenende hatte bis zuletzt für ein Ja geworben. Konsequenzen für sich und seine Regierung schloss er aber aus.
Ratifizierung soll weiter gehen
In Brüssel forderte der amtierende EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker, dennoch den Ratifizierungsprozess fortzusetzen. "Heute Abend hat Europa aufgehört, die Menschen zum Träumen zu inspirieren," sagte er, fügte aber hinzu: "Europa hat schon oft am Boden gelegen, und es ist Europa immer wieder gelungen, wieder auf die Beine zu kommen." Er verwies darauf, dass wie in Frankreich auch in den Niederlanden die Menschen sich widersprechende Argumente gegen die Verfassung ins Spiel gebracht hätten.
Wie Juncker plädierten auch der Präsident des Europäischen Parlaments, Josep Borrell, und EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso für die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses. "Alle europäischen Bürger müssen die Gelegenheit haben, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen", sagte Borrell. Juncker betonte, dieser Ansicht seien auch alle EU-Staats- und Regierungschefs, die er seit dem Nein der Franzosen gesprochen habe.
Auch der Erweiterungsprozess der Europäischen Union soll nach dem Willen der Kommission fortgesetzt werden. "Wir sind uns natürlich des ’Erweiterungs-Blues’ der europäischen Öffentlichkeit bewusst, der eine Rolle in den Volksabstimmungen gespielt hat", sagte Erweiterungskommissar Olli Rehn am Donnerstag in Brüssel. Dennoch werde das Aufnahmeverfahren neuer Mitgliedstaaten wie geplant fortgesetzt. Dabei werde die EU genau darauf achten, dass die Kandidaten die an sie gestellten Bedingungen einhalten. Zudem müssten die Bürger besser über die Bilanz von Vor- und Nachteilen der Erweiterung informiert werden. Die Ablehnung der EU-Verfassung in den Referenden hatte Zweifel daran geweckt, ob die Union wie geplant mit den Beitrittsgesprächen für die Türkei und Kroatien fortfahren wird. Das Vertragswerk soll die EU auch nach weiteren Erweiterungen handlungs- und steuerungsfähig halten.
"Beitrittsverhandlungen mit überdenken"
Der spanische Außenminister Miguel Angel Moratinos hat dafür plädiert, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu überdenken. Das Ergebnis der Volksabstimmung in den Niederlanden lasse sich nicht allein auf innenpolitische Faktoren zurückführen, sagte der Minister am Donnerstag dem staatlichen Rundfunk RNE. Der Prozess der EU-Erweiterung sei bisher so schnell vorangeschritten, dass er in der Bevölkerung "viele Ängste und Ungewissheiten" ausgelöst habe. Die Referenden in Frankreich und den Niederlanden zwängen die EU zum Nachdenken. Dies betreffe "ohne Zweifel" auch die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Ohne EU-Verfassung werde es ohnehin schwer, die erweiterte Union allein auf der Grundlage des geltenden Nizza-Abkommens zu verwalten. Spanien hatte in der EU bisher zu den entschiedensten Befürwortern einer Aufnahme der Türkei gehört.
Das lettische Parlament ratifizierte indes den Vertrag. Die Entscheidung erfolgte mit der überwältigenden Mehrheit von 71 gegen fünf Stimmen. 24 der 100 Abgeordneten in Riga enthielten sich oder waren nicht anwesend. Lettland gehört zu den zehn neuen Ländern, die erst im Mai des vergangenen Jahres der Europäischen Union beigetreten sind. "Mit unserem Votum möchte ich sagen, dass wir an Europa glauben", sagte Außenminister Artis Pabriks nach der Entscheidung. Sein Land wolle, dass Europa voranschreite und nicht rückwärts gehe. Die Abgeordneten sprachen von einer Botschaft an das alte Europa und setzten sich dafür ein, dass der Prozess der Ratifizierung des Vertrags trotz der Ablehnungen in Frankreich und den Niederlanden fortgesetzt werde.
Mit Lettland haben insgesamt zehn Staaten, in denen die Hälfte der mehr als 450 Millionen EU-Bürger wohnen, der Verfassung zugestimmt. Davon allerdings nur Spanien mit einem Referendum. Als Wackelkandidat gilt Großbritannien, wo ein Referendum dem innenpolitisch angeschlagenen Premierminister Tony Blair politisch schaden könnte. Um in Kraft treten zu können, muss sie jedoch von allen 25 Mitgliedstaaten gebilligt werden. Vor den Niederländern hatten am Sonntag auch die Franzosen mit Nein gestimmt.
Hoffnung auf EU-Gipfel
Über das weitere Vorgehen wollen die Chefs auf ihrem nächsten Gipfel am 16. und 17. Juni in Brüssel beraten. Barroso mahnte von dem Treffen Klarheit an und forderte die EU-Staaten erneut auf, vorher von einseitigen Schritten abzusehen. Europa müsse jetzt zeigen, dass es weiterhin handlungsfähig sei. "Europa ist nicht das Problem, Europa ist die Lösung der Probleme der Menschen."