Deutschland verabschiedet sich von der Atomkraft: Zum Jahreswechsel wurden die drei Atomkraftwerke in Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen stillgelegt. Die drei allerletzten deutschen AKW bei Landshut, im Emsland und bei Heilbronn sollen zum Jahresende folgen. Nun sorgen aber Pläne der EU-Kommission für Wirbel. Denn die plant indirekte Förderungen moderner Atom- und Gaskraftwerke.
Konkret sehen die Pläne vor, dass geplante Investitionen in neue AKWs als nachhaltig klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neuesten Technik-Standards entsprechen und ein konkreter Plan für eine Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle spätestens 2050 vorgelegt wird. Zudem soll Bedingung sein, dass die neuen Anlagen bis 2045 eine Baugenehmigung erhalten.
Finnland steht Atomkraft positiv gegenüber
Die Kommissions-Pläne sorgen für Entsetzen bei Umweltschützern und Kernkraftgegnern. Greenpeace und die Deutsche Umwelthilfe warfen der Brüsseler Behörde am Wochenende vor, ein vollkommen falsches Signal zu setzen und ihre eigenen Klimaziele zu untergraben. Auch die Bundesregierung übte Kritik. Die "Hochrisikotechnologie" Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren, sei falsch, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Der Atommüll werde die EU über Jahrhunderte belasten. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) sagte: "Atomkraft ist zu riskant, zu teuer und zu langsam, um der Welt beim Klimaschutz zu helfen."
Anders sieht man das in Finnland. Das Land will bis 2035 zwar auch klimaneutral werden, setzt dafür aber auf Atomkraft – und baut sogar neue Reaktoren. Für die finnische Regierung spielt Kernkraft eine wichtige Rolle in ihrer Klima- und Energie-Strategie. Die "CO2-neutrale Produktion und deren Nutzung" verbessere nämlich die Sicherheit der Stromversorgung. In einem Bericht des Wirtschaftsministeriums heißt es, dass Atomkraft neben erneuerbaren Energien eine wichtige Option zur Reduktion von CO2 sei. Schon in den 1980er-Jahren, als die ersten Meiler ans Netz gingen, sei der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen in Finnland deutlich reduziert worden.
"Aufgrund unserer langjährigen Erfahrung denken wir, dass Atomkraft, wenn die Kraftwerke sorgfältig gebaut und gewartet werden und auf die Sicherheit Acht gegeben wird, als Übergangslösung für die kommenden Jahrzehnte genutzt werden kann", sagte 2019 der damalige finnische Ministerpräsident Antti Rinne.
Auch die öffentliche Meinung zur Atomkraft ist in Finnland mehrheitlich positiv. Eine Umfrage aus dem Jahr 2010 ergab, dass 48 Prozent der finnischen Bevölkerung eine positive Haltung zu Kernkraft hatte, während 17 Prozent dem negativ gegenüberstanden. Eine weitere Umfrage aus dem Jahr 2014 ergab, dass 41 Prozent Atomkraft befürworteten und 24 Prozent diese ablehnten.
Fridays For Future Finnland: Lieber Kern- als Kohlekraft
Sogar beim finnischen Ableger von Fridays For Future ist man offen für Kernenergie. "Atomkraft ist keine perfekte Alternative, aber ihre Emissionen sind gering. Aus unserer Sicht sind es die Kohlendioxidemissionen, die eine größere Bedrohung darstellen als Atommüll und die die Temperatur des Planeten erhöhen. Deshalb sind wir bereit, Atomkraft als Teil des Energiemixes zu akzeptieren" schreibt der Ableger in einer Reaktion auf einen Kommentar von Klimaaktivist:innen, darunter Greta Thunberg und Luisa Neubauer, in der sie sich gegen die Taxonomie in der EU, also die Klassifizierung nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten, von Kernkraft aussprechen. Die finnischen Klimaschützer:innen unterstreichen aber, dass fossiles Gas nicht in die Taxonomie der Europäischen Union gehöre und "keinesfalls als nachhaltiger Energieträger eingestuft werden" sollte.
Es sei nicht die Zeit, eine emissionsarme Energiequelle ganz auszuschließen, so Finnlands Fridays For Future. "Vielmehr müssen wir alle verfügbaren Mittel einsetzen, um die Klimakrise zu bekämpfen. Der Widerstand gegen die Atomkraft wird die ohnehin enorme Aufgabe verkomplizieren und vergrößern. Wenn wir die globale Erwärmung unter 1,5 Grad stoppen wollen, brauchen wir alle möglichen Mittel, einschließlich der Atomkraft, um dieses Ziel zu erreichen."
Atomkraft sei zwar weder unproblematisch noch ein "Allheilmittel", aber es sei besser, "diese emissionsarme Energiequelle zu nutzen, als die Zukunft des gesamten Planeten aufs Spiel zu setzen."

Olkiluoto 3: Neuer Reaktor mit Problemen
Derzeit laufen in Finnland zwei Kernkraftwerke mit je zwei Reaktoren am Netz: Das AKW Loviisa östlich der Hauptstadt Helsinki und das AKW Olkiluoto, nordwestlich von Helsinki. Loviisa ging 1977 erstmals in Betrieb, Olkiluoto ein Jahr darauf. Stand 2019 wurden 35 Prozent des Stroms in Finnland auf nuklearem Weg produziert.
Ein fünfter Reaktor (Olkiluoto 3) befindet sich in der Umsetzungsphase, ein Baugenehmigungsantrag für einen sechsten Reaktor wurde bei der Regierung eingereicht. So will man den Anteil der Atomkraft am Energiemix auf gut 60 Prozent bringen und der Kohlenergie ein Ende bereiten.
Olkiluoto 3 soll mit einer Leistung von ca. 1.600 Megawatt noch in diesem Jahr in Betrieb gehen. Das wären mehr als die Hälfte als die vier bisherigen Reaktoren im Land zusammen produzieren. Doch Olkiluoto 3 entwickelte sich schon früh zu einem Problem-Reaktor. Baubeginn war 2005. Die Kosten für das Projekt wurden auf rund drei Milliarden Euro veranschlagt, liefen aber schnell aus dem Ruder. Immer wieder kam es zu Verzögerungen. 2015 wurde berichtet, dass sich der neue Reaktorblock auf schätzungsweise neun Milliarden Euro verteuerte. Erst im März 2021 erteilte die finnische Nuklearaufsicht Stuk die Genehmigung zur Beladung mit Brennstoff, womit gilt das Kraftwerk als fertiggestellt. Am 21. Dezember erreichte der Reaktor zum ersten Mal die Kritikalität, also der normale Betriebszustand.
Weiteres AKW in Planung
Olkiluoto 3 ist ein sogenannter EPR, ein Druckwasserreaktor der dritten Generation, der von den französischen Unternehmen Framatome und Électricité de France sowie Siemens entwickelt wurde. Der neue finnische Reaktor ist der erste EPR Europas. Frankreich will mit der neuen Reaktortechnik seine bisherigen, teils veralteten Atomkraftwerke, die bis 2050 vom Netz gehen, ersetzen. Der erste soll in Flamanville stehen. Allerdings gibt es auch in Frankreich Probleme mit dem neuen Reaktortyp. 2011 setzte Haushaltsausschuss der Französischen Nationalversammlung eine Kommission ein, die sich mit den enormen Kostenexplosionen beschäftigte.
Es soll aber nicht nur bei dem dritten Reaktor in Olkiluoto bleiben: In Hanhikivi im Westen des Landes soll ein komplett neues AKW entstehen. Hinter dem neuen Atom-Meiler steht der finnische Kernenergiekonzern Fennovoima, der schätzt, dass das neue AKW nach der Inbetriebnahme rund ein Zehntel des finnischen Strombedarfs decken wird. Seit 2015 ist das Kernkraftprojekt in der Baugenehmigungsphase. Bis 2024 soll es laut Planung in Betrieb gehen. Dieses Datum ist allerdings unwahrscheinlich. Denn auch hier gibt es Verzögerungen. So soll die Baugenehmigung erst in diesem Jahr erteilt werden, womit erst 2023 mit dem Bau begonnen werden könnte.
"Der kommerzielle Betrieb der Anlage würde damit 2029 beginnen", hieß es im April von Fennovoima. Auch die Kosten sind bisher deutlich gestiegen, von zuvor geschätzten 6,5 bis 7 Milliarden Euro auf 7 bis 7,5 Milliarden Euro, wie der finnische Rundfunk Yle berichtete.
Finnland will Endlager für hochradioaktive Abfälle bauen
Das ist aber nicht der einzige schlechte Stern, unter dem das AKW-Projekt steht. Inländische Investoren verkündeten schon kurz nach Beginn des Projekts den Rückzug aus Fennovoima. Auch in der Bevölkerung ist die Zustimmung für das Kraftwerk gering. Laut einem Yle-Bericht von 2015 sind nur 29 Prozent der befragten Finnen für eine Baugenehmigung für das umstrittene Kernkraftwerk aus. Mehr als die Hälfte der Befragten war der Meinung, dass die Regierung das Projekt nicht absegnen sollte. Doch trotz der schlechten Omen und einer ausstehenden Baugenehmigung für den Reaktor, errichtet das Konsortium derzeit schon Infrastruktur und Nebengebäude auf dem Gelände. Rund 500 Bauarbeiter:innen sind seit dem Herbst dort beschäftigt.
Von Atomkraft-Gegner:innen als Argument gegen die Kernenergie angeführt wird das Problem des Atommülls. Besonders die Tatsache, dass es noch kein Endlager für hochradioaktive Abfälle auf der ganzen Welt gibt, ist für viele der Knackpunkt. Doch auch da will Finnland Abhilfe schaffen. Denn Finnlands Gesetze sehen vor, dass jeglicher nuklearer Abfall, der im Zusammenhang mit Atomkraft in Finnland entsteht, auch dort gelagert werden muss. Beim AKW Olkiluoto will man daher ein Endlager mit dem Namen Onkalo für stark radioaktive Abfälle bauen. Dafür will man bis zu 450 Meter tief in Felsen bohren. Verbaut werden sollen dabei Eisen, Kupfer, Beton und Ton, um Strahlung nach Außen zu verhindern. Doch bisher ist das Zukunftsmusik, denn die Betriebsgenehmigung fehlt. Die Firma Posiva, die das Endlager errichtet, schätzt, dass in den nächsten Jahren die Endlagerung beginnen kann.
Weitere Quellen: Nachrichtenagenturen DPA und Reuters, World Nuclear Association, Wirtschafts- und Arbeitsministerium Finnland, Hanhikivi, Stuk, Bundeszentrale für politische Bildung