Am Tag bevor die Türkei ihren 100. Geburtstag feiert, steht ihr Präsident auf einer Bühne und redet Terrorismus schön. Und Hunderttausende jubeln.
Aus dem Menschenmeer auf dem Gelände des nach Staatsgründer Kemal Atatürk benannten, stillgelegten Istanbuler Flughafens sind immer wieder "Allahu Akbar"-Rufe zu hören. Unzählige schwenken sehr viele türkische und viele palästinensische Fahnen. Auch der Mann, der die gewaltige, von vier riesigen Monitoren flankierte Bühne auf- und abtigert, bekennt Farbe. Recep Tayyip Erdoğan hat sich einen Seidenschal um die Schultern gelegt, die türkische Flagge an einem, die palästinensische am anderen Ende. "Angesichts der israelischen Unterdrückung" hatte er wenige Stunden zuvor "alle meine Brüder und Schwestern" zu einer pro-palästinensischen Kundgebung geladen.
Seine rund 45-minütige, live im Internet übertragene Rede sollte eine Botschaft des Friedens sein. Am Ende geht es wenig um Frieden, aber viel um Schuld. Die Hamas? Freiheitskämpfer. Israel? Kriegsverbrecher. Der Westen? Der Verantwortliche.
Kurz darauf zieht Israel alle Diplomaten aus der Türkei ab. Man werde eine "Neubewertung der Beziehungen" vornehmen, schreibt Außenminister Eli Cohen auf X. Die meisten Israelis hatten das Land da allerdings schon lange verlassen – aus Angst. Der Nationale Sicherheitsrat in Jerusalem hatte eine Reisewarnung für die Türkei ausgesprochen.

Mit Erdoǧans Wutrede erreicht das türkisch-israelische Verhältnis einen neuen, traurigen Tiefpunkt. Dabei hatte sich der türkische Präsident zu Beginn dieses Krieges noch zurückgehalten, Experten attenstierten ihm sogar vorsichtig eine potenzielle Vermittlerrolle. Auch die Bundesregierung hoffte auf Ankara als Schlichter. Lange sollte die Besonnenheit des AKP-Chefs nicht halten.
Recep Tayyip Erdoǧans Kehrtwende – Solidarität mit der Hamas
Als die radikalislamische Hamas am 7. Oktober ihr Schlachten begann, entdeckte Erdoǧan überraschenderweise zunächst seine innere Schweiz und rief beide Seiten zur Deeskalation auf. In seiner Partei war man da weniger umsichtig. AKP-Funktionär Süleyman Sezen erklärte auf einer Parteiveranstaltung, er "verfluche Israel", hoffe auf ein baldiges Ende "dieses Terrorstaats" und war sich sogar nicht für folgenden Satz zu schade: "Ich bete zu Gott, dass er Hitler Gnade und Barmherzigkeit schenkt."
Keine drei Wochen später vollführte dann auch Erdoǧan die Kehrtwende: Am Mittwoch bezeichnete Erdoǧan die Hamas vor Parteisympathisanten in Ankara als Widerstandsgruppe, die lediglich kämpfe, "um ihr Land und ihr Volk zu schützen". Dass diese "Freiheitskämpfer" mehr als 1400 Israelis auf abscheuliche Art ermordet und mehr als 200 Menschen verschleppt hatten, das ließ er unerwähnt. Die Türkei, so sagte er, schulde Israel "gar nichts" – im Gegensatz zum Westen.
Dass die Türkei als Nato-Mitglied eigentlich selbst Teil "des Westens" ist, ignoriert er ebenfalls. Es ist freilich nicht das erste Mal, dass Erdoǧan den Gelegenheits-Wessi gibt. Die Rolle der Türkei im Militärbündnis interpretierte der AKP-Chef immer wieder höchst eigenwillig, nutze das Vetorecht gerne als Druckmittel – etwa, als er sich gegen den geplanten Familienzuwachs durch Finnland und Schweden stellte.
Tatsächlich war Erdoǧans kurzer Anflug von Neutralität das Abweichen der Norm, nicht andersherum. Schon zuvor hatte er die Hamas als "Widerstandsbewegung" bezeichnet, Israel einen "Terrorstaat" genannt, und antisemitische Klischees befeuert. So behauptete er beispielsweise einmal, der jüdische US-Milliardär George Soros arbeite daran, "die türkische Nation zu spalten und zu zerschlagen". Noch im Sommer empfing er Mahmud Abbas, den zunehmend machtlosen Präsidenten der Palästinensischen Befreiungsorganisation, und Hamas-Chef Ismail Haniyye.
Nur drei Prozent der Türken sind für eine Unterstützung Israels
Seit 2010 herrschte im Prinzip Funkstille zwischen Jerusalem und Ankara, nachdem neun Türken beim Versuch starben, per Schiff Hilfsgüter in den Gazastreifen zu liefern. Die Hamas profitierte wenig überraschend ganz besonders vom Beziehungsaus. In dieser Zeit eröffneten sie die ersten Büros in der Türkei. Deren Anführer, auf die die USA teils Millionen Dollar Kopfgeld ausgesetzt haben, können bequem ein- und ausreisen.
Wer verfolgt im Nahen Osten eigentlich welches Ziel?

gelb – Länder mit normalisierten Beziehungen zu Israel (Unterzeichner des sogenannten Abraham-Abkommens)
gelb-grau schraffiert – bisher auf Annäherungskurs zu Israel
ocker – Länder mit lange bestehenden Friedensverträgen mit Israel
grün-grau schraffiert – unter starkem Einfluss proiranischer Kräfte
Zwar taute das eisige diplomatische Klima zwischen den beiden Ländern zuletzt auf – Erdoǧan hatte vergangenes Jahr Israels Präsident Isaac Herzog empfangen und sogar Regierungschef Benjamin Netanjahu zu sich eingeladen. Doch nun ist "Bibis" Besuch definitiv vom Tisch.
Als vergangene Woche mehr als 200 Menschen bei einem Raketeneinschlag in das Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt ums Leben kamen, war in der Türkei – wie fast überall in der muslimischen Welt – Israel schnell als Schuldiger auserkoren. Erdoǧan ordnete drei Tage Staatstrauer an. Für die Opfer der Hamas wehte keine Fahne auf Halbmast.
Im Gegensatz zu den meisten westlichen Staaten gibt es in der Türkei kein grundsätzliches Wohlwollen gegenüber Israel. Viele Türken sehen unabhängig ihrer politischen Orientierung im jüdischen Staat vornehmlich einen Besatzer, einen Unterdrücker der Muslime. Die jüngste Eskalation befeuert die Antipathie weiter. Dem türkischen Meinungsforschungsinstitut "Metropoll" zufolge ist jeder dritte Türke für eine neutrale Haltung – nur etwa jeder Vierte sähe die Türkei gerne in einer Vermittlerrolle. Nur drei Prozent sprächen sich klar für eine Unterstützung Israels aus. Dass die Hamas nicht Palästina und die israelische Regierung nicht gleich Israel ist, an dieser Trennschärfe mangelt es offenbar auch hier.
Schulterschluss mit der Hamas: das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Rechnung
Erdoǧans anfängliche Zurückhaltung sorgte auch in Ankara für Kopfschütteln. Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu kritisierte Erdoǧans aus seiner Sicht schwache Reaktion, das linke Parteienspektrum tat es ihm gleich.
Druck kam auch aus der eigenen Ecke, zum Beispiel seitens der kurdischen, Hisbollah-nahen Partei Hüda Par. Seit den Wahlen im Mai sitzen die mit vier Abgeordneten an Erdoǧans Tisch. Die Partei fordert die komplette Lossagung von Jerusalem – wirtschaftlich, militärisch, diplomatisch. Auch Erdoǧans wichtigster Verbündeter Devlet Bahçeli, der rechtsextreme Vorsitzende der größten Koalitionspartei MHP, trat von Beginn an weitaus rigoroser auf. Der setzte Israel eine 24-Stunden-Frist, um die Bombardierung des Gazastreifens einzustellen – ansonsten müsse die Türkei "alles tun, was ihre historische, humanitäre und religiöse Verantwortung erfordert". Je länger Erdoǧan auf seinem experimentell-moderaten Kurs blieb, desto mehr Zeit bliebt der Konkurrenz, sich zu inszenieren.
Erdoǧans anfängliche Zögerlichkeit dürfte Experten zufolge auch ökonomische Gründe haben. Sich aufseiten der Hamas zu stellen, könnte ausländische Investoren vergraulen. Und die braucht die Türkei. Wirtschaftlich steht das Land trotz eines allmählich einsetzenden Aufschwungs weiter schlecht da. Die Talfahrt der Lira hatte sich zwischenzeitlich entspannt, die Inflation schoss aber zuletzt wieder in die Höhe und lag im September bei rund 59 Prozent.
Krieg im Nahen Osten: Tote und Trauer in Israel und Gaza

Persönliche Ressentiments hin oder her, Erdoǧans Kurskorrektur ist letztlich Ausdruck blanken Opportunismus. Als Schlichter hätte er zwar außenpolitisch kurzzeitig glänzen können. Doch bei seiner Stammwählerschaft hätte er verloren. Ganz abgesehen davon haben sich einflussreichere Vermittler in den Vordergrund gedrängt. Im Zweifelsfall hört die Hamas-Führung eher auf ihre Geldgeber aus Katar und die Regierung Netanjahu eher auf ihren vergleichsweise verlässlichen Nachbarn Ägypten.
Was für Erdoǧan bleibt ist eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Und laut der lohnt sich der Schulterschluss mit Terroristen einfach mehr.
Quellen: "Spiegel", "Redaktionsnetzwerk Deutschland"; "Arab Center for Research and Policy Studies"; "Foreign Policy"; "Al-Monitor"; "Council on Foreign Relations"; DPA; AFP