Eine Guerrilla-Gruppe hat am Montag mit einem Angriff auf die russische Grenzregion Belgorod den Krieg nach Russland getragen. Um 10.40 Uhr Ortszeit tauchten auf mehreren russischen und ukrainischen Telegramkanälen erste Berichte über das Eindringen unbekannter Truppen auf russisches Territorium auf. Es folgten erste Aufnahmen des brennenden Grenzübergangs Graiworon. Videos zeigten eine kleine vorrückende Kolonne aus Panzern und Militärfahrzeugen. Augenzeugen filmten die Attacke eines Hubschraubers.
Kurze Zeit später übernahmen Vertreter des Russischen Freiwilligenkorps und der Legion "Freiheit Russlands" die Verantwortung für die Operation. Dabei handelt es sich um auf ukrainischer Seite kämpfende Gruppe von Russen, die sich bereits zu früheren Angriffen in der Region Belgorod bekannt hatte. "Es ist an der Zeit, der Diktatur des Kremls ein Ende zu machen", erklärte ein Sprecher der Gruppierung in einem Video-Statement. "Seid mutig. Habt keine Angst. Denn wir kehren nach Hause zurück", lautete seine Botschaft an die russische Bevölkerung. "Russland wird frei sein."
Angriff trifft den Kreml unvorbereitet
Bald meldeten die Kämpfer-Gruppen die Einnahme mehrerer Siedlungen in der Grenzregion. Zwischen 80 und 100 Männer sollen an der Operation beteiligt sein. Den Kreml traf der Angriff völlig unvorbereitet. Die ersten Reaktionen der Staats-Propaganda legten dies offen. Die Propagandistin Olga Skabejewa fing ihre Show "60 Minuten" am Nachmittag mit einer "maximal alarmierenden Nachricht" an. "Auf Telegram taucht eine riesige Anzahl an Berichten und Videos auf, die von dem Schrecken zeugen, der sich in diesem Augenblick in der Grenzregion Belgorod abspielt", begann sie mit versteinertem Gesicht. Es tobe ein erbitterter Kampf mit einer ukrainischen Sabotage-Gruppe, auf beiden Seiten sei Militärtechnik im Einsatz.
Die russischen Behörden leugneten zunächst den Angriff. Als in Belgorod jedoch Alarm-Sirenen erklangen, musste der Gouverneur der Region, Wjatscheslaw Gladkow, einräumen, dass eine feindliche Sabotage-Gruppe auf das Gebiet des Bezirks Graiworonowsky eingedrungen ist.
Das Verteidigungsministerium, der russische Inlandsgeheimdienst FSB und die Grenzbeamten hätten Präsident Wladimir Putin über den Vorfall informiert, erklärte am Nachmittag Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Es werde daran gearbeitet, diese "Sabotage-Gruppe von russischem Gebiet zu vertreiben und auszuschalten".
Anti-Terror-Regime und Evakuierung in Belgorod
Es vergingen Stunden, bis die russischen Streitkräfte handelten. Nachdem Gouverneur Gladkow von mehreren Verletzten unter der Zivilbevölkerung und zerstörten Häusern berichtete, setzte eine Evakuierung ein. Videoaufnahmen zeigen, wie Einwohner der grenznahen Siedlungen in Bussen in die Hauptstadt der Region Belgorod gebracht werden.
Schließlich wurde um 18 Uhr Ortszeit in der Region Belgorod ein Anti-Terror-Regime eingeführt. Es ist die erste Maßnahme dieser Art seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022. Das Anti-Terror-Regime legt verschiedene Maßnahmen und Beschränkungen für die Menschen in der Region fest – von der Überprüfung von Dokumenten und der Einschränkung der Kommunikation bis hin zur Einstellung der Aktivitäten gefährlicher Industrien, präzisierte Gladkow.
Kämpfe gehen am Dienstag weiter
Am Dienstag gingen die Kämpfe zwischen russischen Kräften und der Guerrilla-Gruppe weiter. "Die Ordnungskräfte tun alles Notwendige", erklärte Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow im Onlinedienst Telegram. Er rief die evakuierten Bewohner der Kommune Graiworon dazu auf, vorerst nicht in ihre Häuser zurückzukehren. "Wir werden sofort verkünden (...), wenn es keine Gefahr mehr gibt", schrieb Gladkow.
In der Nacht habe es mehrere Drohnen-Angriffe gegeben, berichtete er. Die Drohnen hätten zwei Häuser und ein Verwaltungsgebäude getroffen, jedoch zu keinen Verlusten oder Todesfällen geführt, erklärte Gladkow. Betroffen waren demnach die Kreisstadt Graiworon sowie das Dorf Borissowka in der westrussischen Region. Eine 81-jährige Frau sei während der Evakuierung gestorben.
Diversanten erbeuten Panzer
Unterdessen tauchten in sozialen Netzwerken weitere Aufnahmen aus der Grenzregion auf. Mehrere Videos zeigen, wie die Guerrilla-Gruppe einen erbeuteten russischen Radschützenpanzer vom Typ BTR 82 A in Besitz nimmt.
Andere Aufnahmen zeigen den zerstörten Grenzposten. "Gruß aus Bachmut", schrieben die Diversanten auf seine Wände.
Gouverneur Gladkow machte eine Sabotagegruppe des ukrainischen Militärs für den Angriff auf seine Region verantwortlich. Die Regierung in Kiew dementierte allerdings ihre Beteiligung an der Aktion. Die Ukraine beobachte die Ereignisse in der russischen Region Belgorod "mit Interesse" und untersuche die Situation, habe aber "nichts damit zu tun", erklärte der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak.
Die "Legion Freiheit Russlands" teilte unterdessen im ukrainischen Fernsehen mit, sie wolle eine "entmilitarisierte Zone entlang der Grenze" schaffen. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Die Einheiten riefen die Bevölkerung auf, keinen Widerstand zu leisten. "Wir sind nicht Ihre Feinde." Die Freiheit sei nahe, hieß es bei Telegram.
"Sicherheitszone" in Belgorod als Ziel?
Der Vertreter der Hauptdirektion für Geheimdienste des Verteidigungsministeriums der Ukraine, Andriy Jusow, erklärte, dass eine Operation zur Schaffung einer "Sicherheitszone" in der Region Belgorod im Gange sei. Dies ist die erste derartige Aussage.
"Die Ereignisse in der Region Belgorod und anderen Grenzgebieten sind das Ergebnis der Invasion und des Angriffskrieges von Putins Russland auf die Ukraine", sagte Jusow. "Ja, Bürger der Russischen Föderation, nämlich die Kräfte des Russischen Freiwilligenkorps und der Legion 'Freiheit Russlands' haben die Verantwortung für diese Geschehnisse übernommen. Ich denke, wir alle können den oppositionellen Bürgern Russlands, die zu einem bewaffneten Kampf gegen das verbrecherische Regime Putins bereit sind, zu ihren entschlossenen Taten nur gratulieren."
Putin schweigt bislang zu den Kämpfen, die in seinem Russland toben.
Am Dienstagnachmittag erklärte das russische Verteidigungsministerium schließlich, die Guerrilla-Gruppen "eliminiert" zu haben. Man habe mehr als 70 Kämpfer getötet. Belege legt das Ministerium keine vor.