Perlen der Kreml-Propaganda Lieber sterben als im Dorf versauern – wie die RT-Chefin den Tod im Krieg schönredet, aber selbst Angst vor Scheinwerfern hat

Margarita Simonjan ist eine der zentralen Figuren der Kreml-Propaganda. Hier im Studio der Sendung "Eigene Wahrheit" auf NTW 
Margarita Simonjan ist eine der zentralen Figuren der Kreml-Propaganda. Hier im Studio der Sendung "Eigene Wahrheit" auf NTW 
© Screenshot NTW/stern
Dem Kreml gehen die Soldaten aus. Die Propaganda soll für einen neuen Zustrom an Freiwilligen sorgen. Doch den Propagandisten fällt nichts mehr anderes ein, als den Tod zu verharmlosen. In dieser Disziplin tat sich jetzt RT-Chefin Margarita Simonjan hervor. 

Die Entwicklung an der Front und die kopflose russische Kriegsführung stürzte die Propaganda des Kremls in den vergangenen Wochen in eine Art verzweifelte Starre. Nicht einmal der 9. Mai, das heiligste Datum des Systems Putins, vermochte in diesem Jahr der Propaganda-Maschine Aufschwung zu geben. Die Parade anlässlich des Siegestags über Nazi-Deutschland fiel in Moskau kümmerlich aus. Die russische Hauptstadt hüllte sich in Grabesstille statt Feierjubel, während Putin blutjunge Kadetten über den Roten Platz marschieren ließ – begleitet von einem einzigen Panzer aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs. 

Von den schrecklichsten und mächtigsten Waffen der Welt, derer sich der Kreml rühmt, war nichts zu sehen – weder bei der Parade noch an der Front. Der Krieg dauert über ein Jahr und niemand hat die besagten Wunderwaffen zu Gesicht bekommen. Der Propaganda bleibt wohl nichts anderes übrig, als weiter Ausreden für diesen seltsamen Umstand zu erfinden.

Die neue Ausrede von Margarita Simonjan 

Margarita Simonjan, die Chefin des Propaganda-Senders RT, beherrscht diese Disziplin wie kaum eine andere. Ihre neuste Ausrede präsentierte sie auf einer für sie ungewöhnlichen Bühne: in der Polit-Talk-Show "Eigene Wahrheit" des Senders NTW.

In der Regel schafft es Simonjan kaum aus dem Studio ihres Hetz-Partners Wladimir Solowjow hinaus. Dieses Mal gab sie "ihre Wahrheit" jedoch im Studio des Moderators Roman Bobajan zum Besten. Ihre Parolen sollen im russischen Staats-TV offenbar noch mehr Raum bekommen als ohnehin schon. 

Warum handele Putin nicht, wenn all seine "roten Linien" längst überschritten worden sind, wollte Michael Bohm wissen. Bohm darf in jeder Propaganda-Show den amerikanischen Prügelknaben spielen und wird als Journalist vorgestellt. "Wer aus der russischen Führung hat jemals gesagt, was genau diese roten Linien darstellt?", lautete die Antwort von Simonjan.

"Wann hat Putin gesagt, dass dies oder jenes eine rote Linie ist? Ich sage es dir: Er hat das nie gesagt. Weder er noch der Verteidigungsminister haben das jemals gesagt." Sie hätten lediglich erklärt, dass es diese roten Linien gibt. "Aber was sich hinter dieser Formulierung verbirgt, können wir nur rätseln", fabulierte die Frau, in deren Büro ein gelbes Sondertelefon steht – der verschlüsselte Draht direkt in den Kreml.

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Die "roten Linien" von Wladimir Putin 

Simonjan verlässt sich offenbar auf ein kurzes Gedächtnis ihres Publikums. Tatsächlich definierte Putin in den vergangenen Monaten mehrmals seine "roten Linien". Ein Beispiel: Zu Beginn des Kriegs waren es westliche Waffenlieferungen an die Ukraine. Im Sommer 2022, nach neuen westlichen Waffenlieferungen, hieß es aus dem Kreml, damit würden die "rote Linien" überschritten werden, was Russland zur Eskalation zwinge. Passiert ist allerdings nichts. 

Wenig später wurde die Lieferung von westlichen Schützen- und Kampfpanzern zur roten Linie erhoben. Im vergangenen Januar wurde sie von mehr als einem Dutzend Staaten überschritten. Jede Woche kommen nun Dutzende westliche Panzer und Schützenpanzer in der Ukraine an. Und was macht Putin? Nichts. 

Putins rote Linien verlieren ihre Gültigkeit, sobald sie überschritten sind. Dies ist auch Simonjan nicht entgangen. Also verklärt sie die roten Linien zu einem großen Geheimnis, das lediglich dem großen Führer im Kreml bekannt sei. Zu dieser Taktik griff sie bereits, als es um die ominösen Ziele ging, die Putin in der Ukraine verfolgt. "Die Ziele ändern sich mit den Möglichkeiten", postulierte Simonjan. Man soll von dem "Oberbefehlshaber und der Regierung nicht verlangen, konkrete Ziele zu benennen, wenn sie sich ändern können." 

Der Sirenengesang der Kreml-Propaganda

In der Vorstellung von Simonjan sind weder Putins Ziele noch seine roten Linien etwas, was die russische Bevölkerung zu interessieren hat. Sie sollen schweigend für ihn in den Krieg ziehen und sich von seinen Versprechen blenden lassen. "Für Vertragssoldaten herrschen großartige Konditionen", schwärmte die Propagandistin. "Das Geld, was die Leute dort bekommen, werden viele Menschen in den Provinzen nie verdienen. Nie und nimmer, auf keinem Arbeitsplatz. Für die Mehrheit ist das eine Tatsache", erklärte sie unverblümt. Gemessen an den Löhnen in Russland, sei die Entlohnung von Vertragssoldaten sehr "anständig". 

Es gebe genügend Freiwillige, die lieber in den Krieg zögen als in den Dörfern zu versauern, "wo es keine Arbeit und keine Möglichkeiten gibt, sich zu zeigen". Da sei es besser, "dahin zu gehen und als Held zurückzukehren". Natürlich sei dies mit einem Risiko für das eigene Leben verbunden. "Aber das Leben ist als solches mit einem Risiko verbunden. Jedes Mal, wenn du dich hinter das Steuer setzt, riskierst du dein Leben. Jedes Mal, wenn wir auf die Straße gehen, riskieren wir unser Leben. Jedes Mal, wenn wir hier unter diesen riesigen Lampen stehen, riskieren wir unser Leben", führte Simonjan mit Blick auf die Ausstattung des TV-Studios aus. "Zweifelsohne ist das Risiko für das Leben im Krieg höher. Aber andererseits ist die Sterblichkeit in den großen Kämpfen niedriger als die Corona-Sterblichkeit."

Simonjan schafft es in einem einzigen Atemzug, die desolate Lage in den russischen Provinzen zu entlarven, den Krieg zur einzigen Perspektive für die Landbevölkerung zu erheben und ihre Auftritte im TV-Studio mit dem Einsatz an der Front gleichzusetzen. Ob die Russen auf den Schlachtfeldern verbluten oder an Corona sterben, ist ihr einerlei – solange der Scheinwerfer nur leuchtet und ihr nicht auf den Kopf fällt. Dabei wird die Opferzahl unter den russischen Soldaten inzwischen auf 200.000 geschätzt. 

Simonjan ist nicht die erste, die den Russen das Sterben schmackhaft machen will. Mehr dazu lesen Sie hier:

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