Für seinen Krieg Verführerische Köder – wie Putin die Russen in den Tod lockt

Russland: Wladimir Putin bei einer Parade in Sankt Petersburg
Russland: Wladimir Putin bei einer Parade in Sankt Petersburg. Doch der Krieg hat für seine Soldaten nichts mit Paraden gemeinsam. 
© Alexander Demianchuk / Imago Images
Mit süßen Ködern lockt Wladimir Putin die Russen in den Krieg. Was der Pseudo-Patriotismus nicht vermag, soll das liebe Geld besorgen. Was mit den Soldaten geschieht, wenn sie erst einmal an der Front gelandet sind, kümmert allerdings den Kreml nicht.  

Ein alter Mann schlendert durch einen kleinen Supermarkt. Brot, Würstchen, Nudeln – das ist alles, was er zum Leben bräuchte. Mühsam zählt er die Münzen aus seinem Portemonnaie zusammen. Doch die Rubel und Kopeken reichen nicht. Die Würstchen wandern zurück ins Regal. Was tun? Der Mann sieht einen einzigen Ausweg aus seiner Misere: Er muss sein altes Auto verkaufen. Der Abschied von seinem gelben Schiguli fällt ihm schwer. 30.000 Rubel ist alles, was er für den geliebten Wagen geboten bekommt. "Diese Karre ist als älter ich", wirft der potenzielle Käufer dem Rentner ist Gesicht. 

Mit Tränen in den Augen nimmt der verzweifelte Mann das Angebot an. Aber siehe da! Gerade als er den Kaufvertrag besiegeln will, eilt sein Enkel herbei. "Ich habe den Vertrag unterschrieben!", ruft der junge Mann stolz. Auf seiner frischen Uniform prangt ein Aufnäher mit der Aufschrift "Streitkräfte Russlands". Auf seinem Ärmel leuchtet die russische Fahne. Der frisch gebackene Vertragssoldat zerreißt den Kaufvertrag, den sein Großvater eben noch unterschreiben wollte. "Jetzt gehen wir ganz bestimmt nicht mehr verloren!", verkündet sein Enkelsohn mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Voller Freude fallen sich die beiden in die Arme. 

Diese rührselige Szene ist der Stoff, aus dem heutzutage in Russland Propaganda gemacht ist. Der Werbespot ist nur einer aus einer ganzen Reihe von denkwürdigen Produktionen der letzten Monate. Der Auftrag ist deutlich: Den Russen soll der Krieg schmackhaft gemacht werden. Im Dienst an der Front sollen sie einen Ausweg aus ihrem Elend sehen. 

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Der süße Köder des Kremls

Die Mobilisierung ist für den Kreml zu einem ernüchternden Desaster geworden. Statt die Kommissariate zu stürmen, stürmten die Russen lieber über die Grenze. Mehrere Millionen junger Männer verließen das Land. Nur notdürftig kratze das russische Verteidigungsministerium den dringend benötigten menschlichen Nachschub für die Front. Doch der Fleischwolf verschlingt weiter tausende Menschenleben. Die ahnungslosen Rekruten sterben wie die Fliegen. Doch woher Ersatz nehmen? 

Während Russland jeden Tag mit einer neuen Welle an Zwangsmobilisierungen rechnet, versucht der Kreml es mit einem süßen Köder: Geld. Was der patriotische Geist nicht vermag, soll der Rubel besorgen. 

Im Januar unterschrieb Putin ein Dekret über "zusätzliche soziale Garantien für Militärangehörige". Demnach bekommen Hinterbliebene von Gefallenen einmalig fünf Millionen Rubel ausgezahlt. Denjenigen, die im Dienst an der Front verletztet werden, werden drei Millionen Rubel versprochen. Umgerechnet sind es etwa 65.000 bzw. 40.000 Euro – für die meisten Russen sind das Summen, die sie nicht einmal innerhalb von 15 Jahren verdienen könnten.

Auch die Summen, die den mobilisierten Soldaten als Sold versprochen werden, sind nach russischen Verhältnissen enorm. Gemäß dem 3. Absatz des Dekrets Nr. 647 liegt die monatliche Mindestzahlung für die Mobilisierten bei 195.000 Rubel. Umgerechnet sind es rund 2545 Euro. Mit dem Dienstgrad steigen die versprochenen Summen. Dabei bekommt nach Angaben des Föderalen Dienstes für staatliche Statistik ein Arbeitnehmer in Russland im Schnitt 815,29 Euro (62.470 Rubel, Stand Oktober 2022).

Massenhochzeiten in Russland 

Wie verführerisch diese Summen sind, zeigt der Hochzeits-Boom der letzten Monate. Nach der Verkündung der Mobilisierung registrierten die russischen Standesämter einen regelrechten Ansturm. Das Staatsfernsehen zeigte Massenhochzeiten im ganzen Land

Ein Blick in die Statistik der Region Burjatien zeigt den explosionsartigen Anstieg an Eheschließungen. Burjatien ist die einzige russische Region, in der die Standesämter tägliche Statistiken veröffentlichen. Daraus geht hervor: Zwischen dem 1. und dem 21. September wurden durchschnittlich 83 Hochzeiten pro Woche registriert. Am 21. September verkündete Putin die Mobilisierung – und plötzlich wurden aus 83 Hochzeiten pro Woche 662. 

Der Grund für den Boom ist einfach: Geld. Im Falle einer Verletzung oder des Todes eines mobilisierten Soldaten kann seine Ehefrau die von Putin versprochenen Zahlungen einfordern. Viele Regionen haben außerdem zusätzliche Maßnahmen zur Unterstützung von Familien angekündigt. 

Hochzeit als letzte gute Tat 

Der Gouverneur der Region Kemerowo, Sergej Ziwiljew, forderte die Mobilisierten auf, zu heiraten, bevor sie sich in den Krieg aufmachen. "Wenn ihr schon lange Jahre mit einer Frau zusammenlebt und Kinder habt, ist es nicht richtig", erklärte der Ehemann einer entfernten Verwandten von Putin. "Ihr widmet euch einer heiligen Sache. Also müsst ihr alles so machen, wie es sich für die Rus gehört." 

Doch diesem Ruf folgten nicht nur langjährig Paare. In den sozialen Netzwerken machten sich Frauen auf, schleunigst nach Ehemännern zu suchen. Ihre unverhohlene Botschaft: Wenn ihr schon sterben müsst, dann sorgt mit einer letzten guten Tat dafür, dass jemand von eurem Tod profitiert. Fünf Millionen Rubel sind eben eine Menge Geld.

Doch nur ein Bruchteil der Hinterbliebenen bekommt auch die versprochenen Summen. Die beliebteste Methode, mit der das Verteidigungsministerium die Zahlungen vermeidet, ist die Vertuschung der Opferzahlen. Anstatt die Gefallenen für tot zu erklären, werden sie als vermisst registriert. Von dieser Praxis berichtete zuletzt ein ehemaliger Kommandeur der Wagner-Truppe, nachdem ihm die Flucht nach Norwegen gelungen war. (Mehr dazu lesen Sie hier.)

Soldaten fordern ihr Geld 

Auch die Monatslöhne, die Wladimir Putin den Mobilisierten per Dekret versprochen hat, werden nicht ausgezahlt. Im Herbst und Winter gingen die frisch eingezogenen Männer aus diesem Grund mehrmals auf die Barrikaden.

"Unser Staat weigert sich, uns die Summe von 195.000 Rubel auszuzahlen, die uns Präsident Wladimir Putin versprochen hat! Warum sollten wir für diesen Staat kämpfen und unsere Familien ohne Unterstützung zurücklassen?! Wir weigern uns, an der 'militärischen Sonderoperation' teilzunehmen und werden für Gerechtigkeit kämpfen, bis wir das Geld, das uns unsere Regierung unter Führung des Präsidenten der Russischen Föderation versprochen hat, bekommen haben!", forderten etwa Rekruten aus der russischen Teilrepublik Tschuwaschien im vergangenen November. (Der stern berichtete.)

In den letzten Wochen sind solche Proteste seltener geworden. Aber nicht, weil sich die Zustände gebessert haben, sondern weil man dazu übergegangen sei, "den Mobilisierten die Mobiltelefone wegzunehmen, ihnen mit Strafverfahren zu drohen, sie zu reumütigen Bekenntnissen zu zwingen, manche zu verprügeln und ihnen und ihren Angehörigen zu drohen", sagt der russische Militärbeobachter Michael Naki. 

Läuse und Krätze

Doch den Behörden gelingt nicht überall den Mantel des Schweigens auszubreiten. In der vergangenen Woche wandten sich Mütter und Frauen aus der Region Primorje in einer Videobotschaft an Putin. Seit Oktober befänden sich ihre Männer und Söhne an der Front, wo es ihnen nicht möglich sei, die rudimentärste Hygiene einzuhalten. Als Folge hätten sich bei den Soldaten Leinenläuse eingenistet und es breite sich unter ihnen die Krätze aus. "Es gibt keine medizinische Versorgung, chronische Erkrankungen haben sich zugespitzt", beschwerten sich die Frauen. "Unsere Jungs bekommen keine humanitäre Hilfe, darunter auch keine Spezialausrüstung. Ihre Montur ist zerschlissen, neue wird nicht geliefert."

In sozialen Netzwerken sammeln ehrenamtliche Helfer Sachspenden für russische Soldaten, zum Beispiel die Organisation "Mutterherz" aus der Region Mari El. In der Truppe fehle es vor allem an warmer Kleidung, es gebe Erfrierungen. Vor Ort sei die Kleidung so teuer, dass sich die Soldaten sie nicht leisten könnten, hieß es in einem Spendenaufruf. Schals, Fäustlinge, Pullover, Hosen – alles werde gebraucht. Auch Medikamente, Marmeladen und Süßwaren.

Verräterische Gaben 

Doch nicht nur solche Aktionen zeugen davon, dass das Putin-Regime nicht daran denkt, die versprochenen 2545 Euro Monatslohn an die Mobilisierten auszuzahlen. Auch die Propaganda entblößt ungewollt die Lage. In dem Wunsch sich selbst zu profilieren, lassen sich russische Politiker und Beamte von Kameras begleiten, während sie milde Gaben unter das Volk bringen. 

In der Region Moskau bekamen Familien eingezogener Soldaten zehn Kilogramm Kartoffeln und zehn Kilogramm Karotten überreicht. 

Im Stadtkreis Baltijsk wandten sich 15 Familien an die lokale Verwaltung, um Brennholz zu bekommen. Der Leiter der lokalen Verwaltung, Sergej Melnikow, beeilte sich dieser Bitte medienwirksam nachzukommen. 

In Jakutien verteilte man an die Angehörigen der Mobilisierten Eisbrocken. Die aus dem nächsten Fluss herausgebrochenen Eismassen dienen den Einwohnern als Wasservorrat. Fließendes Wasser gibt es hier nicht. 

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Während die Propaganda die Geschenke der Behörden preist, zeigen die Kameras die Realität: zerfallene Dörfer, heruntergekommene Wohnungen und baufällige Hütten. Hier sind und bleiben 2545 Euro im Monat ein ferner Traum.

Land zu verschenken 

Doch es ist gerade der Traum, dem Elend zu entkommen, mit dem der Kreml spielt. Zuletzt machte das Oberhaupt der annektierten Halbinsel Krim, Sergei Aksyonow, große Versprechungen. Er kündigte an, ab dem 1. April dieses Jahres Grundstücke an alle Soldaten zu verteilen, die im Krieg kämpfen. Die Grundstücke werden in der Nähe des Schwarzen Meeres sein und mit der notwendigen Infrastruktur ausgestattet werden, versicherte er. 

"Strom-, Wasser- und Gasverbindungen werden angeschlossen. Es wird einige Zeit dauern, bis die Bauarbeiten abgeschlossen sind, aber die Mittel sind bereits zugesagt worden", erklärte Aksyonow.

Auch in anderen Regionen lockt man die Russen mit Grundstücken an die Front. Im Januar brüstete sich der Gouverneur der Republik Inguschetien damit, 21 Zertifikate für den Erwerb eines Grundstücks in den Städten Malgobek und Sunzha an Familien von mobilisierten Soldaten ausgestellt zu haben. "Diese Arbeit wird fortgesetzt, bis alle Mobilisierten Grundstücke erhalten", verkündete er. Wenn es eins gibt, was Russland im Überfluss hat, dann ist es Land – unbesiedeltes Land. 

Was die mittellosen Soldaten und ihre Familien damit aber anfangen sollen, verraten Putins Bürokraten nicht. 

Was verrät aber die Propaganda über ein Land, in dem der Einsatz an der Front der einzige Weg zu sein scheint, damit ein Rentner sich ein paar Würstchen leisten kann?

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