Der 9. Mai ist im ideologischen System, das Wladimir Putin in den vergangenen 23 Jahren in Russland erschaffen hat, das Heiligste des Heiligen. In den vergangenen Jahren war das sakrale Datum des Sieges über Nazi-Deutschland einem einzigen Zweck geweiht: der Demonstration der Stärke des Putin-Regimes. Was einst ein bittersüßer Gedenktag war, der der Erinnerung und der Ehrung der Opfer des Zweiten Weltkrieges geweiht war, verkam zu einer billigen Show dessen, was Putin für seine Glanz und Glorie hält.
"Nie wieder Krieg", das war das unumstößliche Credo, mit dem einst die Soldaten der Roten Armee von der blutigen Front zurückkehrten und an die nächsten Generationen weitergaben. Putin führte diesen Glaubenssatz jedoch ab absurdum und verwandelte dieses Credo in eine Glorifizierung des Kriegs. Auch wenn er das Wort Krieg selbst nicht in den Mund nehmen will und es anderen verbietet – außer es geht um einen Krieg, der gegen Russland geführt wird. Diejenigen, die dennoch den Krieg in der Ukraine beim Namen nennen, werden für Jahre hinter Gitter geschickt.
Nur ein Beispiel jener Schizophrenie, die für die russische Öffentlichkeit so bezeichnend ist: Das Wort Krieg steht auf der Tabu-Liste, doch gleichzeitig wird das Militär in den Olymp erhoben. Der modernste Panzer, die schnellste Rakete, der beste Jet – die Propaganda überschlägt sich in Superlativen, wenn es um die russische Armee geht. Der 9. Mai war für Putin die willkommene Kulisse für die Militarisierung der ganzen Gesellschaft. Bereits im Kindergarten werden Dreijährige inzwischen in kleine Uniformen gesteckt und in Marschkolonnen eingereiht. In den Schulen lernen demnächst die russischen Kinder, wie man eine Kalaschnikow auseinanderlegt und wieder zusammenbaut.
Keine Panzer, keine Jets, aber tausende Kadetten – die Bilder der Putin-Parade aus Moskau

Stille in Moskau statt Siegestaumel
Der Kult um den Siegestag ist in Russland allgegenwärtig. "Pobedobesie" nennen die Russen selbst diese hysterische, maßlose Ausschlachtung des alten Triumphs über Nazi-Deutschland. Der Begriff bedeutet nichts anders als "Siegeswahn". Von der Kultivierung dieses Wahns konnte Putin über viele Jahre profitieren. Doch als er an diesem Dienstag auf den Roten Platz trat, lag über Moskau eine erschreckende Stille, wie es die Fernsehbilder zeigten.
Tausende Schaulustige stehen sich üblicherweise Beine in den Bauch, um einen Blick auf die marschierenden Soldaten und die viel gepriesene Technik zu werfen. Feiernde Menschenmassen füllen die Prachtstraße Twerskaja und die umliegenden Gassen, die zum Roten Platz führen. Doch in diesem Jahr bot die russische Hauptstadt ein anderes Bild: eine stille Leere.
Die Soldaten marschierten durch halbverlassene Straßen zum Roten Platz. Die Motorengeräusche der paar Dutzend uralten Militärfahrzeuge aus den Tagen des Zweiten Weltkriegs, die der Kreml aufgeboten hat, vermochten nicht die Stille zu füllen. Auch vor den Mauern des Kremls kam keine feierliche Stimmung auf. Die sieben Staatschefs ehemaliger Sowjetrepubliken, die Putin zu sich zitierte, trugen mürrische Mienen zur Schau. Über das Pflaster vor ihnen marschierten in strengen Reihen vor allem Kadetten, die aus allen Winkeln Russlands nach Moskau zur Parade gebracht worden sind. Eindrücklicher hätte Putin die Verluste der russischen Armee kaum vorführen können, als 16-jährige Jungs den Platz von professionellen Soldaten einnehmen zu lassen.

Der Kreml-Chef selbst hatte seiner Nation nichts zu sagen. Innerhalb weniger Minuten spulte Putin die altbekannten Propaganda-Parolen über ausgedachte ukrainische Nazi-Faschisten herunter, bevor die Parade in aller Eile über die Bühne gebracht wurde. Keine Ziele, keine Ergebnisse, keine Erfolge – Putins Rede war so inhaltslos wie die Straßen Moskaus leer.
"Die Szenerie ist erschreckend", kommentierte der Politologe Dmitri Oreschkin das Geschehen in Moskau an diesem Tag. "Mir war klar, dass Russland in einem schrecklichen Zustand ist. Aber ich dachte nicht, dass er so katastrophal ist."