Wenn ein Mann nicht beim Militär war, ist er kein richtiger Mann. Diese Denkweise ist in der russischen Gesellschaft fest verankert. Erst der Wehrdienst mache einen Mann zum Mann, wird Jungs von klein auf erzählt. Seinen Ursprung hat der Gedanke in der fernen Vergangenheit, als das russische Militär noch Stolz hervorrufen konnte.
Tatsächlich leistet nur ein Bruchteil der jungen Männer eines Jahrganges heute den Wehrdienst ab. Der Rest findet Mittel und Wege, den gefürchteten zwölf Monaten beim Militär zu entkommen. Eine etwas schizophrene Haltung, die aber für das russische Bewusstsein charakteristisch ist.
Genau hier versucht die Propaganda des Kremls anzusetzen. Die archaischen Vorstellungen von einem Mann sollen im kollektiven Bewusstsein wieder nach vorne rücken – und die russischen Männer zum Militär treiben. Denn der Kreml braucht dringend neue Soldaten für seinen Krieg in der Ukraine.
"Du bist doch ein richtiger Mann"
Ein neuer Werbespot des russischen Verteidigungsministeriums füllt seit einigen Tagen die Werbepausen im russischen Staats-TV. Die Intention ist deutlich: Russische Männer sollen daran erinnert werden, was sie zu richtigen Kerlen macht.
"Du bist doch ein richtiger Mann", heißt es gleich zu Beginn des Spots. Im Bild ist dabei ein volluniformierter Soldat mit einem Gewehr vor den Kulissen eines Supermarkts zu sehen. "Hast du etwa geträumt, solch ein Beschützer zu werden?", lautet im Anschluss die Frage, während der Soldat im Bild durch einen Wachmann ausgetauscht wird.
"Liegt etwa hier deine Stärke?", heißt die Frage in der nächsten Szene, in der ein muskelbepackter Fitnesstrainer gezeigt wird. "Wolltest du etwa diesen Weg einschlagen?", wird in dem Spot ein Taxifahrer gefragt.
Die Botschaft der Kreml-Propaganda
Alle drei Fragen sollen die Zuschauer in der Vorstellung des Verteidigungsministeriums mit einem Nein beantworten – und beim Militär einen Vertrag unterzeichnen. Im Gegensatz zu Wachmännern, Fitnesstrainern und Taxifahrern sind Soldaten echte Männer, lautet die Botschaft. Begleitet von martialischer Musik tauchen am Ende des Werbeclips schwer bewaffnete Krieger aus dem Nebel auf – der leibhaftig gewordene Traum aller Militaristen. "Du bist doch ein richtiger Mann. Also sei das auch", lautet der Slogan. "Diene unter Vertrag."
Ein Gehalt von mindestens 204.000 Rubel pro Monat verspricht das Verteidigungsministerium den potenziellen Vertragssoldaten. Umgerechnet sind es nach aktuellem Kurs rund 2283 Euro – eine Summe, von der in Russland die meisten nur träumen können.
Landesweite Werbekampagne
Der Spot ist nur der neueste Teil einer groß angelegten Werbekampagne, mit der der Kreml neue Soldaten gewinnen will. Die Straßen Russlands sind vollgekleistert mit Plakaten, die zum Dienst beim Militär aufrufen. Die Werbebotschaften lauten: "Unser Beruf ist der Schutz der Heimat" oder "Der Militärdienst ist die Wahl der Helden. Deine Wahl". Schwarze Bretter, Hauseingänge, U-Bahn-Waggons, Bushaltestellen und sogar Toiletten: Es gibt inzwischen so gut wie kein Örtchen mehr, wo man nicht der Werbekampagne begegnet. Mancherorts ziert die Werbung für den Vertragsdienst bereits die Rückseite der Nebenkostenabrechnung.

Aber wozu macht sich der Kreml all die Mühe? Wo doch Moskau entweder die Mobilisierung von Reservisten wieder intensivieren oder im Notfall sogar auf die Wehrpflichtigen zurückgreifen könnte, um die ausblutende russische Armee aufzustocken.
Vertragssoldaten sind für den Kreml bequem
Die Antwort ist einfach: Beide Maßnahmen gefährden die Position von Wladimir Putin, da sie in der Bevölkerung abgelehnt und gefürchtet werden. Besonders der Einsatz von Wehrpflichten gilt als absolutes Tabu. Die im vergangenen September verkündete Mobilisierung hat eine Fluchtwelle, Proteste und Unmut ausgelöst. Bevor sich der Kreml zu diesen verzweifelten Maßnahmen entschließt, werden daher alle anderen Mittel ausgereizt.
Freiwillige Vertragssoldaten sind für den Kreml bequemer als Zwangsrekrutierte. Der Tod von Vertragssoldaten wird in der Öffentlichkeit schweigend hingenommen. Schließlich sind sie im Wissen um die Risiken freiwillig in den Militärdienst getreten, so die vorherrschende Meinung. Der Tod von mobilisierten Reservisten wird hingegen schmerzoll aufgenommen. Nicht umsonst versucht der Kreml die Gemüter zu beruhigen, indem ständig versprochen wird, dass Mobilisierte nicht an die Front geschickt werden – obwohl das nicht den Tatsachen entspricht.
Bei Verlusten unter den Wehrpflichtigen müsste der Kreml mit Massenprotesten rechnen. Seit dem Afghanistan-Krieg gilt der Front-Einsatz von Wehrpflichtigen in der russischen Gesellschaft als nicht hinnehmbar.
Kreml geht auf Nummer sicher
Doch der Kreml ahnt, dass eine noch so große Werbekampagne der russischen Armee keine Ströme an neuen Soldaten bescheren wird. Mit einer radikalen Gesetzesänderung ist der Boden für eine weitere Mobilisierungswelle jedenfalls schon vorbereitet.
Was das neue Gesetzespaket vorsieht, erfahren Sie hier:
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