Die russische Armee blutet aus. Davon zeugt nicht nur die Mobilisierung von Rervisten, die Wladimir Putin trotz aller Risiken für seine eigene Position im vergangenen Herbst ausgerufen hat. Auch die neuesten Gesetzesänderungen sind das Resultat eines eklatanten Personalmangels der russischen Streitkräfte. Am Dienstag verabschiedete die russische Staatsduma in zweiter und wenig später auch in dritter Lesung einen Gesetzentwurf, der die Schaffung eines einheitlichen Wehrpflichtigenregisters vorsieht und elektronische Einberufungsbescheide einführt.
Die Einberufungsbescheide müssen jetzt nicht mehr persönlich überreicht werden, sondern können auf elektronischem Weg über das staatliche Serviceportal "Gosuslugi" zugestellt werden. Somit haben elektronische Vorladungen in die Militärkommissariate künftig die gleiche Geltung wie Vorladungen per Einschreiben oder Benachrichtigungen durch den Arbeitgeber. Die elektronische Vorladung gilt als zugestellt, sobald sie auf dem persönlichen Account des staatlichen Serviceportals hinterlegt wird.
Kein Entkommen mehr
Auf den ersten Blick könnte man die Regelung für einen Fortschritt in Richtung Digitalisierung halten. Tatsächlich ist sie jedoch ein Mittel, alle Männer, die bislang den Wehrdienst in der Armee vermeiden konnten, in die Fänge des Staates zu bekommen. Derzeit sind in Russland alle Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren zum Wehrdienst verpflichtet.
Bislang musste die entsprechende Vorladung zum Militärkommissariat persönlich überreicht und mit einer Unterschrift des Wehrdienstpflichtigen quittiert werden. Viele Russen konnten der Einberufung entgehen, indem sie die Annahme der Vorladung oder die Unterschrift verweigerten oder sich schlicht nicht unter ihrer Meldeanschrift aufhielten, sodass eine Zustellung nicht möglich war. Nun wird dieser Praxis ein Ende gemacht.
Verbote und Strafen für "Verweigerer"
Wer der elektronischen Vorladung nicht Folge leistet, dem drohen weitreichende Konsequenzen. Nach Erhalt der Vorladung ist ein termingerechtes Erscheinen beim Militärmelde- und Einberufungsamt verpflichtend. Andernfalls wird den "Verweigerern" nach 20 Tagen das Führen von Fahrzeugen, der Verkauf und Kauf von Immobilien sowie die Aufnahme von Krediten verboten. Auch die Registrierung als Selbstständiger ist dann nicht möglich.
Außerdem ist es nun "Bürgern, die zum Wehrdienst verpflichtet sind", verboten, Russland zu verlassen – von dem Moment an, wenn sie die Vorladung erhalten bis zu ihrem Erscheinen beim Einberufungsamt. Wer sich also bislang durch die Ausreise ins Ausland dem Einzug in die Armee entziehen konnte, dem wird nun auch dieser Weg versperrt.
Der gläserne Wehrpflichtige in Russland
Das verabschiedete Änderungspaket sieht zudem die Schaffung eines einheitlichen Wehrpflichtigenregisters vor. Daten über Wehrpflichtige werden von der Steuerbehörde, den Ermittlungs- und Untersuchungsorganen, den Gerichten, medizinischen Einrichtungen, der Pensions- und Sozialversicherungskasse, der Zentralen Wahlkommission, den Bundes- und Kommunalbehörden sowie Bildungsinstitutionen übermittelt.
Zu den erhobenen Daten von Wehrpflichtigen gehören Angaben zum Gesundheits- und Bildungszustand, Wohn- und Arbeitsort, Vorliegen einer ausländischen Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltserlaubnis in einem anderen Staat, sowie die Steueridentifikationsnummer und die persönliche Versicherungsnummer – eine Nummer, die von der Pensionskasse der Russischen Föderation an die Einwohner Russlands vergeben und die zur Verfolgung ihrer Sozialversicherungskonten verwendet wird.
Gesetz gilt auch für mobilisierte Reservisten
Die neuen Regeln werden dabei für alle gelten, die zum Militärdienst verpflichtet sind, und nicht nur für die Wehrpflichtigen, erklärte der Vorsitzende des Duma-Verteidigungsausschusses Andrej Kartapolow am Dienstag unverblümt. Das bedeutet, dass auch Reservisten, die im Rahmen der Mobilisierung eingezogen werden, dem neuen Gesetz unterliegen.
"Da es sich um ein allgemeines Verfahren zur Zustellung der Einberufungsbescheide handelt, kann das Gesetz auch bei der Mobilmachung zur Anwendung kommen", erläuterte die St. Petersburger Anwältin Anastasia Burakowa in einem Gespräch mit dem unabhängigen Medium "Sever.Realii". "Da es seit dem Zweiten Weltkrieg keine Mobilmachung mehr gegeben hat und es dafür kein eigenes Gesetz gab, flicken die Abgeordneten hier ein paar Löcher. Es ist offensichtlich, dass das Verfahren auch auf die Zustellung der Einberufungsbescheide im Rahmen der Mobilmachung ausgeweitet wird."
Wehrpflichtige im Krieg
Wehrpflichtige Soldaten sollen zwar nach Bekundungen des Kremls im Gegensatz zu den Mobilisierten nicht in den Krieg geschickt werden, tatsächlich sind jedoch viele Fälle bekannt, bei denen Wehrpflichtige im Kriegseinsatz gestorben sind. "Offiziell schließt Russland Wehrpflichtige weiterhin von Operationen in der Ukraine aus, obwohl mindestens Hunderte wahrscheinlich zum Einsatz gekommen sind – durch Verwechslungen der Behörden oder nachdem sie zum Unterzeichnen von Verträgen gezwungen worden sind", beurteilte etwa das britische Verteidigungsministerium die Lage.
Einen Hinweis, dass demnächst Wehrpflichtige vermehrt zum Einsatz kommen können, liefert eine weitere Gesetzesänderung, an der die Duma derzeit arbeitet: Die Altersgrenze für Wehrpflichtige soll auf 30 Jahre angehoben werden.
Gesetz gilt auch für russische Bürger im Ausland
Nach dem Willen des Kremls sollen auch die im Ausland lebenden russischen Bürger den Wehrdienst ableisten. Sie könnten sich "ein Jahr lang Urlaub nehmen, in den Streitkräften dienen, ihre Schuld gegenüber ihrem Heimatland begleichen und dann ins Ausland zurückkehren, um dort glücklich arbeiten", erklärte der Vorsitzende des Duma-Verteidigungsausschusses Kartapolow. Bürger der Russischen Föderation, die im Ausland leben, könnten nach Erhalt des Einberufungsbescheides die erforderlichen Dokumente in elektronischer Form an das Einberufungsamt übersenden.