Einer nach dem anderen knacken die Knochen der Wirbelsäule. Der fast zahnlose Mann braucht keinen Schwamm, um den Dreck in kleinen Würsten aus meiner aufgeweichten Haut zu schrubben. Seine Hände sind von den Jahrzehnten im feucht-warmen Dampf aufgeraut wie eine Drahtbürste. In seinem Schoß riecht es nach Urin, in den Ecken an der Decke hat sich Schimmel ausgebreitet. Mit der entspannten Massage im Hammam im Hamburger Hafen, wo ich – eingehüllt in Rosenduftschaum und den üppigen Busen der türkischen Masseurin – langsam wegdämmere, hat das, was hier gerade in Tunis passiert, nichts zu tun.
Hammam hat Vorstellung vom Orient kaputt gemacht
Wenig beflügelt die Fantasie über den Orient sicherlich so sehr wie eine sinnliche Massage im wohlig-warmen Hammam. Auf einem warmen Stein ruhend, plätschernd den Alltag und die Sorgen vergessen und sich fühlen wie in 1001 Nacht. Dabei hat das Hammam unsere Vorstellung vom Orient genauso kaputt gemacht wie die Silvesternacht in Köln, nach der plötzlich nur noch von "Nafris" und jungen nordafrikanischen Männern die Rede war, die sich grapschend und geifernd über die deutschen Frauen her machen. Wenn es um die Arabische Welt geht, scheint es nur noch Extreme zu geben. Und das ist extrem gefährlich. Denn DEN Orient gibt es nur in unserer Fantasie.
Und in den Büchern von Karl May, der selbst noch nie in den Orient gereist ist, als er 1881 anfängt seine ersten Bücher über "Wüste und Harem", das "wilde Kurdistan" oder das "Land der Skipetaren" zu veröffentlichen. Vielleicht ist Karl May also schuld an diesem romantischen Bild. Vielleicht auch der sächsische Herzog August der Starke, der mehr als 100 Jahre vorher anfängt, eine immense Sammlung von Türkenmode und orientalischen Waffen in der "Türckischen Cammer" in Dresden anzuhäufen, selbst eine Kamelherde soll er importiert haben und für die Hochzeit seines Sohnes ließ er ausladende Baldachinzelte auf den Dresdner Elbwiesen aufbauen. Interessant übrigens, dass gerade in Sachsen - auch Karl May lebte in seiner "Villa Shatterhand" ja unweit von Dresden in Radebeul - die Faszination für den Orient so groß war. Aber das nur am Rande.
Vielleicht ist auch Peter Scholl-Latour schuld, in dessen Reportagen die Ordnung des Orients meistens bei langen Gesprächen und Teezeremonien um ein Lagerfeuer in der Wüste von Stammesfürsten besprochen wurde. Als das Fachmagazin "Zenith" vor einiger Zeit die deutschsprachigen Nahost-Journalisten in ihrer Rubrik "Scholl-Latours Erben" unter anderem gefragt hatte, "wonach riecht er, der Orient?", da war von Minz- und Rosenduft allerdings nur wenig die Rede. Vielmehr riecht die Arabische Welt für die Journalisten heute nach Autoabgasen (Kairo), Müllkrise (Beirut), Wüstenstaub mit Meer (Tripolis) und verbranntem Fisch (Bagdad). Und nur an den wenigsten Orten so, wie man meint, dass es im Orient riechen müsste: Nämlich nach Rosenwasser, Jasmin, Kardamom und gegrilltem Kebab.
Nervenzusammenbruch in Istanbul
Karl May unternimmt - seinen Zweiflern zum Trotz - als 57-jähriger und bereits erfolgreicher Autor 1899 tatsächlich seine erste und einzige Orientreise. In Istanbul - konfrontiert mit der Wirklichkeit, die so gar nicht zur Vorstellung seiner Bücher passt - erleidet er dann einen Nervenzusammenbruch.
Aber das romantische Orientbild hat sich bei uns in Deutschland verfestigt. Die Kriege der Zeitungen waren weit weg und wenn man abends von der zerbombten Innenstadt Falludschas aufsah und von der Tagesschau aus aus dem Fenster blickte, dann stand die Welt noch.
Wer ist schuld am Klischee?
Vielleicht sind daran auch die Reiseveranstalter schuld, die in den Hotels in Marrakesch und Hammamet "original Kameltouren" durch die aufgeschütteten Sanddünen hinterm Hotel anbieten und abendliche "exotische Bauchtanzkurse" für Bäuche, die nach dem Hotelbüffet wirklich nicht mehr in die Öffentlichkeit dürften. Meine Mutter war so eine Frau, die in ihrem einzigen Türkeiurlaub das Handeln liebte und jedes noch so fremde Essen probierte, die in den 90ern für die im Kosovokrieg vertriebenen Familien Pullover und Gardinen sammelte und sich gleichzeitig darüber mokierte, wie sich "die ganzen Asylanten" auf die Wäschekörbe stürzten und sich gegenseitig "die Gardinen von den Fenstern" klauten. Die am nächsten Tag aber unser Lieblingsspielzeug trotzdem wieder in den alten Sauerländer Gasthof brachte, wo "die Asylanten" ohne Heizung aber mit röhrenden Hirschbildern an den Wänden untergebracht waren.
"Den" Orient gibt es nicht
Vielleicht sind aber auch die Tunesier und Marokkaner selbst schuld an diesem Bild, wenn sie am Strand und in den engen Souks der Altstädte billige Schals mit Paschmina-Muster verkaufen und mit umgarnendem Charme auf einen kleinen Verkauf oder eine kleine Turtelei hoffen.
Wahr ist, dass es "den Orient" nicht gibt und vielleicht so auch noch nie gegeben hat. Wahr ist der ältere syrische Mann aus al Hawash, den ich im Sammeltaxi bei einer Überlandfahrt kennenlerne und der mir, als ich kurz davor stehe im Regen unter freiem Himmel zu schlafen, den Schlüssel seines Hauses in die Hand drückt und mit seiner Familie zu den Nachbarn geht. Wahr sind aber auch die beiden jungen Tunesier, die der deutschen Bekannten in den kleinen Gassen von La Marsa unvermittelt an die Brüste grapschen.
Wahr sind die jungen Männer in den Cafés, die nach dem "Arabischen Frühling" auf die Regierungen schimpfen und auf Subventionen und finanzielle Hilfen warten, während sie den Plastikkaffeebecher in den Rinnstein schnippen. Wahr ist die junge Frau aus Saudi-Arabien, die vor der Unterdrückung ihrer Familie ins Ausland flieht und den Tod fürchtet, sollte sie zurückgebracht werden. Wahr sind aber auch die jungen Studenten in Damaskus, die Handschuhe und Eimer einpacken und durch den vermüllten Fluss Barada waten (der leider genau so heißt wie das lokale Damaszener Bier) und den Abfall einsammeln, um etwas gegen die achtlose Umweltverschmutzung von einigen anderen zu tun. Wahr ist auch die junge Frau aus Riad, die in einem Co-Working Space arbeitet, in dem junge Saudis gemeinsam ihre Startups planen und die angesichts der Frage, wie das denn so sei, in einem gemischt-geschlechtlichen Büro zu arbeiten, entgeistert antwortet: Das machen wir seit sechs Jahren, das ist normal.
Männer verschwinden im Nebenraum
Wahr ist jede Erfahrung und Begegnung für sich zu sehen. Das ist anstrengend und erklärt vielleicht den Nervenzusammenbruch von Karl May. Nach dem Hammambesuch in Tunis bekomme ich wegen meiner Nackenschmerzen ein paar Tage später vom Arzt eine Halskrause verschrieben. Aber schon beim nächsten Mal, in einem anderen Hammam, sieht es wieder ganz anders aus. Nur dass immer wieder Männer zu zweit im mit Tüchern abgehangenen Nebenraum verschwinden, das irritiert ein wenig.