Invasion in der Ukraine "Ich dachte, ich erschieße mich jetzt": Wie russische Soldaten den eigenen Krieg erleben

Grabenkrieg: Soldaten der Ukraine feuern an der Frontlinie in der Region Saporischschja auf russische Stellungen
Grabenkrieg: Soldaten der Ukraine feuern an der Frontlinie in der Region Saporischschja auf russische Stellungen
© Efrem Lukatsky / AP / DPA
Suizidgedanken, unsinnige Befehle, schlechte Moral: Russische Kriegsgefangene in der Ukraine haben dem US-Sender CNN von Führungschaos in der Kremltruppe und den Schrecken des Grabenkrieges berichtet.

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert mittlerweile seit fast 500 Tagen an. Mehrere Hunderttausend russische und ukrainische Soldaten wurden seit dem Beginn der Invasion durch Kremltruppen am 24. Februar 2022 getötet oder verwundet. Allein seit Dezember 2022 hätten mehr als 20.000 Russen bei den Kämpfen ihr Leben verloren, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, Anfang Mai unter Berufung auf Geheimdienstinformationen. Weitere 80.000 seien verletzt worden.

Die Hälfte der Getöteten habe der Söldnergruppe Wagner angehört, erklärte Kirby. Und die meisten von ihnen seien ehemalige Sträflinge gewesen, die in der Schlacht um die die ostukrainische Stadt Bachmut "in den Kampf geworfen" wurden, und denen es an "ausreichender Kampfausbildung, Kampfführung oder jeglichem Sinn für organisatorische Führung und Kontrolle" mangelte.

Wie sich dieses "in den Kampf geworfen" werden anfühlt, haben drei russische Kriegsgefangene dem US-Sender CNN geschildert: Kugeln und Granaten "flogen und pfiffen drei Tage lang über uns hinweg und explodierten um uns herum", berichtete Anton, ein russischer Soldat, der südlich von Bachmut stationiert war. "Wir hüpften wie die Karnickel unter Mörsergranaten und Bomben".

"Wir hatten keinen Kampfgeist"

Anton, der nicht wirklich so heißt, wurde dem Sender zufolge mit sieben weiteren Gefangenen von der ukrainischen Armee in einem Behelfsgefängnis in der Ostukraine festgehalten. CNN konnte nach eigenen Angaben drei von ihnen vor ihrer Übergabe an den ukrainischen Geheimdienst befragen. Angesichts der vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes veröffentlichten Leitlinien für die Berichterstattung über Kriegsgefangene und um sie vor möglichen Problemen im Falle einer Rückkehr nach Russland zu schützen, verwendete der Sender nicht ihre echten Namen.

In Anwesenheit von zwei ukrainischen Soldaten hätten die drei Männer über die schlechte Kampfmoral in ihren Schützengräben, die Unordnung und die offensichtliche Entbehrlichkeit einiger russischer Truppen gesprochen.

Er habe in Russland wegen Drogenbesitzes im Gefängnis gesessen, erzählte Anton – seine dritte Haftstrafe, nachdem er in der Vergangenheit bereits wegen eines ähnlichen Verbrechens und eines Raubüberfalls verurteilt worden war. Man habe ihm eine saubere Akte versprochen, wenn er sich zum Kampf in der Ukraine meldet, aber er habe nicht gewusst, dass er an die Front geschickt werden würde. Er und sein Mitgefangener Slawa hätten vor ihrem Einsatz lediglich eine zweiwöchige Grundausbildung bekommen.

"Wir hatten keinen Kampfgeist", räumte Slawa gegenüber CNN ein. "Wir hatten erwartet, dass wir die Verteidigungslinie halten würden, wie es uns versprochen wurde. Uns wurde gesagt, dass Wagner für die Feindseligkeiten zuständig sei. Und dass wir diejenigen wären, die in den befreiten Gebieten stationiert sind."

Er habe in einem russischen Gefängnis eine zehnjährige Haftstrafe wegen Drogenhandels verbüßt, als der Krieg begann, sagte Slawa dem Sender. Auch ihm sei versprochen worden, dass sein Strafregister gelöscht würde, wenn er in den Krieg ziehe. Er hatte sich zusammen mit Anton in ein Schutzloch geflüchtet, als die beiden Kriegsgefangenschaft gerieten.

Nach tagelangem Beschuss – ohne Nahrung und nur mit Regenwasser zum Trinken – seien ukrainische Soldaten bis zu dem Schutzloch vorgedrungen, erzählte Anton. Er habe ein Klicken gehört und zwei Granaten seien hineingeworfen worden. Die Tiefe des Loches habe ihn vor der Explosion geschützt. "Eine Zeit lang war es still, dann kamen sie zurück. Ich dachte, das sei das Ende", zitiert CNN den Kriegsgefangenen. Er habe geglaubt, er würde entweder hingerichtet oder brutal gefoltert werden. "Ich schaltete das Gewehr auf Einzelschussmodus und dachte, ich erschieße mich jetzt. Aber ich konnte es nicht."

"Unsere Artillerie hat wie üblich nicht funktioniert"

Sergej, ein weiterer russischer Kriegsgefangener, berichtete CNN, dass er gerade "ich ergebe mich" gerufen habe, als zwei Granaten in seiner Nähe einschlugen und die Soldaten neben ihm im Schützengraben töteten. Sein Kommandeur sei bereits geflohen gewesen.

"Ich habe mich in den Gräben versteckt. Diejenigen, die von einer Position zur anderen rennen wollten, wurden von Maschinengewehren und Panzern einfach niedergeschossen", erinnerte er sich. Als er die ukrainischen Soldaten gesehen habe, sei er vor Angst weggekrochen und habe sich mit zwei Soldaten zusammengekauert. Einer von ihnen habe über ein Funkgerät russischen Artillerieschutz angefordert, bevor er von umherfliegenden Granatsplittern getötet worden sei.

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"Unsere Artillerie hat wie üblich nicht funktioniert", sagte Sergej. Dann hätten die Kremleinheiten Grad-Raketenwerfer eingesetzt, aber die hätten ihr Ziel immer wieder verfehlt. Schließlich seien die Ukrainer gekommen. "Ich fing an zu schreien 'Wir ergeben uns', dann warfen sie eine Granate auf uns." Er habe gespürt, wie ihn ein Splitter an der Hand traf.

"Sie fragten mich, wer ich sei, und ich sagte, dass ich Russe sei und dass ich mich ergebe", erzählte Sergej weiter. Als er aus dem Graben klettern wollte, sei eine zweite Granate angeflogen gekommen. "Ich schaffte es in einer Sekunde, halb aus dem Graben zu kriechen. " Der Soldat hinter ihm sei von der Granate getötet und er selbst am Bein verletzt worden. Ein ukrainischer Soldat erklärte laut CNN später, dass es schwierig sei, während der Kämpfe zu verstehen, was die russischen Soldaten sagen.

Im Gegensatz zu Anton und Slawa ist Sergej nach Angaben von CNN kein russischer Sträfling, sondern Zeitsoldat. Er habe die Zeit, für die er sich verpflichtet hatte, letztes Jahr im südukrainischen Cherson verbracht, berichtete der junge Vater dem Sender. Nach seiner Rückkehr in die Heimat habe ihm der Militärstaatsanwalt gedroht, er werde wegen Desertion ins Gefängnis kommen, falls er nicht auf das Schlachtfeld zurückkehre.

Seine früheren militärischen Erfahrungen hätten ihn nicht auf das vorbereitet, was ihn im "Fleischwolf" Bachmut erwartet habe, berichtete Sergej. "Es war ganz anders als das, was ich im Fernsehen gesehen habe. Eine parallele Realität. Ich spürte die Angst, den Schmerz und die Enttäuschung über meine Kommandeure."

Ukraine will Russen für Gefangenenaustausch nutzen

Anton und Slawa erzählten laut CNN ähnliche Geschichten. Um an Nahrung und Wasser zu kommen, hätten sie einen fünf Kilometer langen Fußmarsch durch Minenfelder zurücklegen müssen. Ihr unmittelbarer Kommandant sei ebenfalls ein Sträfling gewesen. Ihre Befehlshaber hätten den Vorrat an Schmerzmitteln genutzt, um high zu werden. Unter dem Einfluss der Medikamente hätten diese Kommandanten Soldaten ins Mörserfeuer hinausgeschickt und "unsinnige Befehle" erteilt.

Die Berichte von Anton, Slawa und Sergej lassen sich nicht unabhängig bestätigen. Man muss davon ausgehen, dass die Kriegsgefangen – auch wenn sie die Interviews freiwillig gegeben haben sollten – bei ihrer Entscheidung darüber und bei ihren Aussagen auch die ukrainischen Reaktionen darauf im Kopf gehabt haben dürften. CNN zufolge schienen die Russen bei den Befragungen aber nicht unter Zwang zu stehen.

Ein ukrainischer Soldat, der für das Behelfsgefängnis verantwortlich ist, erklärte gegenüber CNN, dass er seit sechs Monaten russische Sträflinge mit ähnlichen Geschichten empfängt – im Gegensatz zu den hochmotivierten Soldaten, die im vergangenen Jahr im Kampf gefangen genommen worden seien. Man wolle die Russen gegen ukrainische Soldaten austauschen, die von den Kremltruppen festgehalten werden, habe aber in der Hinsicht keine große Hoffnung, sagte der Soldat. "Für die russische Regierung sind sie nicht viel wert."

Quellen: CNN, BBC, NBC News