Wolodymyr Selenskyj ist überzeugt: Russland beginnt zu verstehen, "dass es mit dem Krieg nichts erreichen wird".
Einen solchen Widerstand hätte Russland nicht erwartet, sagte der ukrainische Präsident in einer Videobotschaft in der Nacht zum Dienstag. "Sie glaubten ihrer Propaganda, die seit Jahrzehnten über uns lügt." Die russischen Soldaten rief er dazu auf, die Waffen niederzulegen. Aus abgehörten Telefonaten mit ihren Familien wisse man, was viele "wirklich über diesen Krieg" denken. "Ich weiß, dass ihr überleben wollt", sagte Selenskyj an die russischen Streitkräfte gerichtet.
Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen, aber vieles spricht dafür, dass sich Russlands Präsident Wladimir Putin von seinem Angriffskrieg einen Blitzsieg versprochen hat – und verkalkuliert hat.
Das ukrainische Militär und die Bevölkerung haben in der Tat eine nicht erwartete Widerstandskraft gezeigt. Mehrere Nato- und EU-Staaten, nicht zuletzt Deutschland, schicken Waffen und Geld zur Unterstützung, haben noch nie dagewesene Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen den Aggressor verhängt – und setzen weitere ins Werk.
Fotochronik des Ukraine-Krieges: Eine Unterschrift. Was folgt, sind Tod und Leid

Alles in der Hoffnung, den Kremlherrscher doch noch von seinem Kriegskurs abzubringen. Bislang vergebens.
Russlands Angriffskrieg dauert an. Die Berichte über zivile Opfer mehren sich. Präsident Putin lässt die militärischen Handlungen offenkundig brutalisieren, um seine Ziele noch zu erreichen. Auch der offene Wirtschaftskrieg gegen Russland hat bisher zu keinem Umdenken im Kreml geführt.
Was hat Putin vor, welches Ziel verfolgt er?
Nach 20 Tagen der Gewalt erweist sich die Antwort als schwierig. Die Entscheidung über das Ende des Kriegs scheint allein in seinem Kopf zu fallen. Sicher ist nur eines: Verlieren ist für Putin keine Option.
"So banal es klingt: Wladimir Putin muss mit diesem Krieg mehr erreichen, als er vor diesem Krieg hatte", sagt der Politologe und Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck zum stern. Er könne nicht unter seinen drei expliziten Forderungen bleiben, "wenn dieser Krieg irgendeinen 'Sinn' gehabt haben soll." Alles andere müsse als "Kriegsniederlage Putins" gewertet werden.
Die Positionen sind klar ausbuchstabiert
Unterhändler Russlands und der Ukraine hatten am Montag über eine Lösung des Konflikts verhandelt, ihre Gespräche aber letztlich auf diesen Dienstag vertagt. Die Positionen sind klar ausbuchstabiert:
- Die Ukraine fordert ein Ende des Krieges und einen Abzug der russischen Truppen.
- Russland verlangt, dass Kiew die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisches Territorium sowie die ostukrainischen Separatistengebiete als unabhängige Staaten anerkennt und die Ukraine ihre Neutralität erklärt.
Es war bereits das vierte Treffen in größerer Runde. Einen Durchbruch gab es bislang nicht, in den vergangenen Tagen allerdings ein paar Andeutungen, an die Diplomaten anknüpfen könnten.
"Verhandelbar ist vielleicht, ob die Ukraine die Krim als russisches Staatsgebiet anerkennen muss oder nicht", glaubt Russland-Experte Mangott. Eine Anerkennung der Krim würde in der Praxis nicht viel ändern, die Sanktionen des Westens gegen Russland ohnehin bestehen bleiben.
"Hingegen unabdingbar ist der neutrale Status der Ukraine und die Unabhängigkeit der ostukrainischen Separatistengebiete." Weniger könne Putin nicht akzeptieren, weil er eine Rechtfertigung für seinen Krieg brauche.
In anderen Worten: Putin muss seine Invasion als Erfolg in Russland verkaufen.
Und der Erfolgsdruck wächst. Schon jetzt ächzt die russische Wirtschaft unter den massiven Sanktionen, die auch den Alltag der Bürgerinnen und Bürger verändern. Sie bekommen Putins Politik nun zu spüren, gehen dagegen auf die Straße und nehmen für ihren Protest Haftstrafen in Kauf. Mehr und mehr verlassen das Land.
Noch gibt sich der Kremlherrscher unnachgiebig, zeigte im jüngsten Gespräch mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz offenbar kein Entgegenkommen. Die Eskalationsspirale dreht sich unaufhörlich weiter. Aber wohin?
Für Putin gibt es keinen Weg zurück
Die westliche Allianz schließt das Schlimmste nicht aus, auch nicht die Ausweitung des Angriffs auf weitere benachbarte Länder und sogar den Einsatz von Atomwaffen.
US-Präsident Biden hat seinem russischen Amtskollegen daher wiederholt aufgezeigt, wo die roten Linien verlaufen: "Jeden Zoll" des Nato-Gebiets werde man gegen einen russischen Angriff verteidigen. Am Samstag verhängten die USA, die EU und andere Verbündete neue Sanktionen. "Putin ist der Agressor", sagte Präsident Biden, "und Putin muss den Preis zahlen".
Dass bisher weder ein Abbruch der Invasion, noch ein Weg aus der Eskalationsspirale zu erkennen ist, lässt erahnen, wie hoch Putins Preis sein könnte. Dafür spricht auch die jüngste Prognose des ukrainischen Präsidentenberaters Olexii Arestowitsch, wonach "bis Mai, Anfang Mai" ein Friedensabkommen stehen könnte. Ein Abkommen könne "vielleicht viel früher" erreicht werden, sagte der Chef des ukrainischen Präsidentenstabes. Doch der Weg dahin ist offenbar noch weit.
Inzwischen gibt es Stimmen, die warnen: Das russische Regime ausschließlich in eine Ecke zu drängen, könnte kontraproduktiv sein – und die Lage zusätzlich eskalieren lassen. Daher müsse der Weg der maximalen Härte gegen Russland auch eine Ausfahrt haben (der stern berichtete).
Den Mahnungen liegt eine Annahme zu Grunde: Putin ist klar, dass er nicht mehr zurück und nur noch nach vorne kann.
"Er muss der politischen und militärischen Führungsriege vorzeigen können, warum Tausende Soldaten sterben und das Land unter schwerste Sanktionen gelegt wird", so Russland-Experte Mangott. "In der Bevölkerung dürfte die Verwunderung groß sein, wenn die ostukrainischen Separatistengebiete nicht zu unabhängigen Staaten erklärt werden." Putin gab diese Forderung als zentralen Kriegsvorwand an, weil dort ein "Völkermord" begangen werde. "Viele Russen würden sich fragen: Warum bleibt alles so, wie es war, trotz eines 'Völkermords'? Was sollte das ganze?" Putin sei daher bereit, "alles einzusetzen, was er militärisch für notwendig" halte.
"Er wird versuchen, eine militärische Kapitulation zu erzwingen"
Die tschetschenische Hauptstadt Grosny und das syrische Aleppo sind Beispiele für eine Kriegsführung Russlands, die auf Zivilisten keine Rücksicht nimmt. In der dritten Woche des Ukraine-Kriegs wächst die Sorge, dass sich die grausame Geschichte wiederholen könnte.
Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte vom Mittwoch, wurde seit dem Einmarsch russischer Truppen am 24. Februar der Tod von 691 Zivilpersonen in der Ukraine dokumentiert. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, betont stets, dass die tatsächlichen Zahlen mit Sicherheit deutlich höher liegen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bräuchten oft Tage, um Opferzahlen zu überprüfen. Das Hochkommissariat gibt nur Todes- und Verletztenzahlen bekannt, die es selbst unabhängig überprüft hat.
Nach Angaben örtlicher Behörden wurden allein in Mariupol im Südosten der Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs 2357 Menschen getötet. Die Hafenstadt mit etwa 400.000 Einwohnern ist seit Tagen von russischen Einheiten umzingelt und vom Rest des Landes abgeschnitten. Ein Berater des Bürgermeisters nannte die Lage in der Stadt "unmenschlich": "Kein Essen, kein Wasser, kein Licht, keine Wärme." Er befürchte viel mehr Tote.
"Ganz offensichtlich ist Putin dazu bereit, zivile Ziele absichtlich anzugreifen, um die Moral der ukrainischen Streitkräfte und der Bevölkerung zu brechen", sagt Politologe Mangott. "Ob das gelingt, ist auf kurze Sicht fraglich, doch zeigt sein Handeln die Bereitschaft, Städte dem Erdboden gleichzumachen, um seine Ziele zu erreichen." So sei er auch im Tschetschenienkrieg vorgegangen. Es sei davon auszugehen, dass sich die Brutalisierung der militärischen Handlungen fortsetzen werde. "Wenn die ukrainische Führung nicht bereit ist, politisch zu kapitulieren, wird Putin versuchen, eine militärische Kapitulation zu erzwingen."
Ob sich Putin auch mit weniger zufrieden geben würde? Wohl nur, "wenn Russland diesen Krieg verliert – oder ihn zumindest nicht gewinnt", glaubt der Politologe. Eine Kriegsniederlage würde zwar nicht zwingend Putins Sturz zur Folge haben, seine Position aber "erheblich schwächen". "Die Sanktionen würden bestehen bleiben, die Beziehungen zum Westen sind nicht mehr existent, niemand will mehr etwas mit Putin zu tun haben", so Mangott. "Er muss jetzt gewinnen."