Das bis vor Kurzem quickfidele Verhältnis der beiden Atommächte steht mit Russlands Angriff auf die Ukraine nun mit einem Mal vor einer Zerreißprobe.
In den vergangenen Jahren rückten die beiden Weltmächte immer näher zusammen – schließlich hatte man mit den USA einen gemeinsamen Gegner. Der Schulterschluss zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und seinem fernöstlichen Pendant Xi Jinping sollte die geopolitische und wirtschaftliche Bedeutung beider Nationen stärken. Stattdessen markiert der Krieg in der Ukraine für das Regime in Peking einen Wendepunkt, der Chinas Rolle auf der Weltbühne auf lange Zeit prägen könnte.
Für China ist es an der Zeit, seine viel beschworene "felsenfeste" Freundschaft zu Russland auf den Prüfstand zu stellen. Lässt China Russland fallen oder stellt es sich hinter den wirtschaftlich und politisch weitgehend isolierten Aggressor?
China und Russland: Eine Liebesgeschichte mit Höhen und Tiefen
Wie jede Liebesgeschichte hat auch die Beziehung zwischen Peking und Moskau Höhen und Tiefen – und beginnt mit Schmetterlingen im Bauch. Die UdSSR war 1949 die erste Weltmacht, die die Volksrepublik offiziell anerkannte. Ohne Josef Stalins Unterstützung hätte sich Staatsgründer Mao Zedong nicht an der Macht halten können.
Die Liebesgrüße aus Moskau waren allerdings nicht von Dauer. Mit Stalins Tod 1953 entfremdeten sich die beiden kommunistischen Staatsapparate zusehends; Mao sah in Russland alsbald Konterrevolutionäre am Werk. Aus Entfremdung wurde Feindseligkeit: Nach Grenzscharmützeln 1969 drohte die Situation völlig außer Kontrolle geraten – ein offener Krieg wurde gerade noch verhindert.
Das an der Emanzipation schnuppernde China begab sich daraufhin auf die Suche nach neuen Freunden – und landete Anfang der 70er in den weit offenen Armen eines alten Feindes: den USA.
In den folgenden fünf Jahrzehnten ist der ärmliche Agrarstaat zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt heran-, aber immer noch nicht ausgewachsen. In den vergangenen zehn Jahren, so die "New York Times", hat Peking enorm von den sich zankenden Westmächten profitiert. Nicht zuletzt das unter Ex-US-Präsident Donald Trump angeknackste Verhältnis der USA zur EU habe Chinas Rolle als Weltmacht endgültig festgezurrt.
Seine neue Position im Scheinwerferlicht hat der gefestigten Autokratie völlig neue Handlungsspielräume ermöglicht. Wieder sucht sich die Volksrepublik neue – in diesem Fall alte – Freunde. Statt ideologische lassen diesmal sicherheits- und handelspolitische Anreize die alte Liebe aufflammen. Und dieses Feuer lodert hell.
In den vergangenen zwölf Jahren in Folge, so das Nachrichtenmagazin "Diplomat", war China der größte Handelspartner Russlands und Russland wiederum der größte Energieexporteur Chinas. Dem US-Magazin "Atlantic" zufolge hat sich das Handelsvolumen der beiden ziemlich besten Freunde seit 2017 verdoppelt – allein 2021 sei es um 36 Prozent auf 147 Milliarden Dollar gewachsen. Wirtschaftlich ergänzen sich die beiden Autokratien nahezu perfekt: Der Kreml findet in Fernost einen gewaltigen Absatzmarkt für seine Rohstoffe, China kann ungebremst in die hinkende Wirtschaft Russlands investieren und seine Tech-Produkte vertreiben.
Noch wichtiger als sprudelnde Handelseinkommen sind allerdings die gemeinsamen Sicherheitsinteressen. Mit dem Bündnis zwischen Ost und Fernost stehen die beiden Autokratien Rücken an Rücken gegen die verhasste Nato und insbesondere gegen deren Führungsmacht USA.
Doch all das war vor dem 24. Februar. Vor dem Tag, der die fragile Weltordnung aus den Angeln hob.
"Felsenfeste" Allianz: ein Must-have für Russland, ein Nice-to-have für Peking
Bevor russische Panzer über ukrainische Straßen rollten, war Moskau auch sicherheitspolitisch der perfekte Partner für Peking. Russland stichelte gegen die USA, torpedierte politische und wirtschaftliche Allianzen in Europa und erwies sich als nützlicher Puffer gegen die Nato, indem es die junge Demokratie in Kiew schikanierte.
Doch es ist eine ungleiche Freundschaft: Vom Bedeutungsverlust der einstiegen Weltmacht und damit seiner eigenen Position frustriert, driftete Putin in den vergangenen Jahren in die Rolle des internationalen Buhmanns ab – und wurde dadurch jeden Tag abhängiger von China. Während Russland seine Weltmachtstellung immer mehr mimte denn tatsächlich verkörperte, festigte China seine Position im Scheinwerferlicht der Weltbühne. Eine Kehrtwende war vollzogen; wer die Rolle des kleinen, wer die des großen Bruders spielte, das hatte sich geändert. Für Moskau wurde die Freundschaft mit Peking ein Must-, für Peking ein Nice-to-have.
Wie Alexander Gabuev von der Denkfabrik des "Carnegie Moscow Center" dem "Atlantic" erklärt, habe China eigentlich geplant, Russland so sehr von sich abhängig zu machen, dass es in zehn, 15 Jahren als "Juniorpartner" dasteht und somit Pekings Außenpolitik unterworfen ist. Das scheitert nun mit Russlands Isolation durch Putins Großmachtfantasien. Nichtsdestotrotz versprach sich die Einheitspartei vom Schulterschluss mit dem Kreml weiterhin viel.
Rund einen Monat vor Eröffnung der Olympischen Winterspiele empfing Xi Jinping seinen Amtskollegen in Peking. Putin war der erste Regierungschef, den der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) seit zwei Jahren empfing. In einem gemeinsamen Papier (der stern berichtete) stellen sie klar: Ihre Allianz ist "felsenfest", "grenzenlos", stärker denn je. Ob Putin Xi zu diesem Zeitpunkt bereits von Putins Invasionsplänen wusste, das weiß niemand sicher. "Wahrscheinlich trauen sich die beiden nur soweit, wie sie sich sehen", meint Eberhard Sandschneider, Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin und Experte für chinesische internationale Politik auf Anfrage des stern. Wie die "New York Times" unter Berufung auf einen Geheimdienstbericht schrieb, soll Xi Putin sehr wohl das Versprechen abgenommen haben, mit dem Angriff bis zum Ende der Winterspiele zu warten – Krieg ist eben schlechte PR.

Dann überfiel Russland die Ukraine. Und das in einem Ausmaß und mit einer Brutalität, die wohl selbst die Funktionäre in Peking überrascht haben dürfte. Doch die Allianz der Autokratien sollte standhalten. Medienberichten zufolge brachte Xi "seinen Respekt für die Souveränität und territoriale Integrität aller Länder zum Ausdruck, äußerte aber gleichzeitig Verständnis für die Sicherheitsbedenken Russlands". Das Wort Krieg nahm er – wie der Aggressor selbst – nicht in den Mund.
Während sich der Westen in lang vermisster Einigkeit hinter die Ukraine stellte, gab sich China als die Schweiz Asiens. Eine Woche nach Kriegsausbruch verurteilten 141 Mitgliedstaaten im Zuge einer UN-Vollversammlung in New York die russische Invasion und riefen den Kreml zum sofortigen Truppenabzug auf. 35 Staaten enthielten sich – darunter die Volksrepublik China.
Diese "Fassade der Neutralität", so Politikwissenschaftler Sandschneider, könne sich aber jederzeit ändern – "je nachdem wie man in Peking die aktuelle Lage einschätzt". Wie gründlich in Peking tatsächlich geschätzt wird, zeigt sich bereits.
Das Bündnis beginnt zu bröckeln
Eigentlich folgt China in Sachen Außenpolitik seit Jahrzehnten seinen "fünf Prinzipien", die da heißen: "gegenseitige Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, gegenseitiger Nichtangriff, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen, Gleichheit und gegenseitiger Nutzen sowie friedliche Koexistenz." Kompliziert wird es allerdings, wenn der engste Verbündete diese Leitsätze mit Stahlkappen tritt. Mit seinem blutigen Feldzug durch die Ukraine beschert Putin der russisch-chinesische Allianz ein Dilemma. "Argumentativ ist China in der Defensive und vermeidet eine klare Verurteilung der Verletzung ihrer Grundsätze durch Russland", erklärt Gerhard Mangott, Politologe und Russland-Experte von der Universität Innsbruck dem gegenüber dem stern.
Dass sich der vom Kreml fest eingeplante Blitzsieg dank der tapferen Ukrainer als zäher Krieg herausstellte, belastet auch die russisch-chinesische Freundschaft. Mit jedem Tag, an dem Bilder und Berichte ziviler Opfer um die Welt gehen, wächst auch der Druck in Peking, sich klarer zu positionieren.
Das Bündnis beginnt zu bröckeln – zumindest gibt es Anzeichen dafür. Im Gegensatz zu der öffentlichkeitswirksam propagandierten "grenzenlosen" Freundschaft vor den Olympischen Spielen und die Neutralitätsbekundungen nach Kriegsausbruch, hat die chinesische Regierung laut BBC inzwischen ihr "Bedauern" über die "Militäraktionen" in der Ukraine zum Ausdruck gebracht. Man sei "äußerst besorgt" über den Schaden für die Zivilbevölkerung habe es vor rund einer Woche aus Peking geheißen. Im Staatsfernsehen ist mittlerweile sogar die bis dato verbotene Bezeichnung "Krieg" hören, berichtet die ARD. "Invasion" bleibt allerdings weiterhin ein Fremdwort.
Auch in China selbst zeichnet sich laut "Foreign Policy" ein Wandel ab. Nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine seien die chinesischen Medien mit "antiwestlichen Inhalten" überschwemmt worden. Die Kernaussage: Eigentlich ist die USA schuld an allem. Deren imperialistisches Gebaren, habe Russland schließlich keine Wahl gelassen. Inzwischen, so das US-Magazin, hätten Mainstream-Nachrichten damit begonnen, "von einer pro-russischen Haltung abzurücken und den Konflikt neutraler darzustellen, während sie den Krieg zugunsten anderer Nachrichten herunterspielen."
Der Einheitspartei KPCh wird klar: Wegsehen ist keine Dauer-Option. So hat Außenminister Wang Yi der BBC zufolge inzwischen Chinas "unerschütterliche Unterstützung" für die Souveränität der Ukraine bekräftigt.
Warum nicht gleich so? Hier fällt das Stichwort "Taiwan".
Ukraine-Krieg als Blaupause für Taiwan-Annexion?
Mit dem einsetzenden Raketenfeuer in der Ukraine schweiften die besorgten Blicke vieler Experten auch noch weiter gen Osten: auf den demokratischen Inselstaat Taiwan. Die Befürchtung: China könne die Fokussierung des Westens auf den Krieg an der Nato-Grenze nutzen und die Republik annektieren. Dass Peking die aus seiner Sicht "abtrünnige" Provinz mit der Volksrepublik "wiedervereinen" will, ist schließlich seit Langem bekannt.
Auch wenn die Volksrepublik die vermeintlich günstige Gelegenheit bislang verstreichen ließ, so ist der Einmarsch Russlands in der Ukraine für Peking doch insofern interessant, als dass er als eine Art "Blaupause" für eine künftige Invasion von Taiwan dienen könnte.
Dass China die Gunst der Stunde noch nicht genutzt hat, liegt nicht zuletzt an den unerwartet heftigen Sanktionen gegen Russland. Schließlich muss Peking davon ausgehen, dass der Westen im Falle einer Taiwan-Annexion mit China ähnlich hart ins Gericht geht. Das wiederum träfe China, dessen Reichtum sich vor allem aus dem internationalen Handel speist, weitaus härter als die bereits zuvor stückweit isolierte und wirtschaftlich kränkelnde Russische Föderation.
Was die Oligarchen in Russland schmerzt, wäre für die global vernetzte chinesische Elite kaum auszuhalten. Denn ein Großteil ihres Vermögens, so schreibt der "Diplomat", "ist mit Chinas wichtigsten multinationalen Unternehmen verflochten oder in ausländischen Banken versteckt, was diese Elite anfälliger für Finanzsanktionen macht." Hinzukäme, dass im Gegensatz zum (noch) unangefochtenen Herrscher Putin, Xi Jinping weitaus stärker auf den Rückhalt seiner Funktionäre angewiesen ist.
Die Ukraine zeigt aber auch: So hart der Westen auch gegen Russland wirtschaftlich vorgeht – vor einer militärischen Intervention schreckt die Nato (aus offensichtlich existentiellen Gründen) zurück. "Beim Blick auf den militärischen Verlauf dürfte sich für chinesische Strategen zeigen, dass ein Angriff auf Taiwan militärisch ungleich schwieriger wäre, zumal das Land sich auf die direkte Unterstützung der Vereinigten Staaten verlassen kann. Eine Ermunterung zu einem Angriff auf Taiwan in diesen Zeiten ist der bisherige Verlauf des Ukraine-Krieges sicherlich nicht", glaubt aber China-Experte Sandschneider.
Hoffnung für die Ukraine: Profit schlägt Freundschaft
Zurück im östlichen Westen. Nun stellt sich weiterhin die Frage, ob China sein (noch) inniges Verhältnis zu Russland letztlich nicht doch für das Gute, für ein Ende der Ermordung Unschuldiger einsetzt? Gemessen an seiner zentralen Bedeutung für einen Friedensschluss hat Peking bislang vor allem mit Abwesenheit geglänzt. In Anbetracht der Tatsache, dass Xi womöglich der einzige ausländische Staatschef ist, der noch Einfluss auf den außer Kontrolle geratenen Putin haben könnte, war Pekings bisheriger Einsatz, gelinde gesagt, überschaubar. Dass das chinesische Außenministerium humanitäre Hilfsgüter im Wert von umgerechnet 720.000 Euro in die Ukraine schicken will, geht da eher in Richtung Zynismus.
Dabei bietet sich der Volksrepublik eine einzigartige Chance: Sollte Xi seinen heißen Draht in den Kreml nutzen und Putin zu – ernstgemeinten – Friedensgesprächen bewegen, würde er nicht nur seine Macht demonstrieren. Er würde bekräftigen, dass China nicht nur Teil des globalisierten Handels, sondern auch essenzieller Bestandteil der internationalen Sicherheitspolitik ist. Ein rauer Wind aus Westen wäre an dieser Stelle allerdings wenig hilfreich. "Druck auf China würde nur den Zusammengang mit Russland beschleunigen. Daher ist das Gegenteil erforderlich: Der Westen sollte China ersuchen, alles dafür zu tun, was in seiner Macht steht, um Einfluss auf die russische Führung zu nehmen", meint der Russland-Experte Mangott.
Die Volksrepublik, so glaubt auch die "New York Times", profitiert von Frieden und Stabilität. Krieg stünde den nationalen Ambitionen im Wege. Der Partei ginge es schließlich darum, die Weltordnung mitzubestimmen, nicht, sie aus den Angeln zu heben. "China könnte jederzeit eine Vermittlerrolle einnehmen. Es hat sicherlich die Möglichkeiten, zusätzlich massiven Druck auf Putin auszuüben. Das wird es aber nur dann tun, wenn es in seinem Kosten-Nutzen-Kalkül Vorteile für die chinesische Position sieht. Dies ist derzeit noch nicht wirklich absehbar", schlussfolgert Politikwissenschaftler Sandschneider.
Egal, welchen Schritt Peking als Nächstes unternimmt: Es wird nicht ewig auf zwei Hochzeiten zugleich tanzen können. Das Jonglieren mit den heiligen fünf Prinzipien, der Allianztreue gegenüber Russland und der Verflechtung in den Welthandel kann nicht auf Dauer gut gehen. China muss sich entscheiden.
Noch ist Peking der Gewinner des Elends, wie Experte Sandschneider erklärt: "China wird billige Ressourcen von Russland beziehen können und auf diese Art und Weise seinen Anspruch als führende Weltwirtschaftsmacht weiter untermauern. Der Nutznießer des Krieges in Europa wird China sein." Genau darin könnte allerdings die Chance für die Ukraine liegen: Peking ist sich immer selbst am nächsten. "Da Wirtschaftswachstum Grundlage der Legitimität der kommunistischen Partei ist, dürfte hier eindeutig ein Schwerpunkt liegen", so Sandschneider weiter. Ein entscheidender Punkt. Sollte sich die Treue zu Russland an einem irgendwann als zu teuer erweisen, wird China unweigerlich aller Freundschaft Bande kappen. Denn trotz der weitrechenden Kontrolle der Bevölkerung durch forcierten Nationalismus und Informationskontrolle genießt die KPCh nur so lange den Rückhalt der Bevölkerung, wie der wirtschaftliche Aufschwung andauert.
Und China hat viel zu verlieren. Viel mehr als Russland. "Putin mag davon träumen, die Größe der Sowjetzeit wiederherzustellen", schrieb der bekannte US-Wirtschaftswissenschaflter Paul Krugman für die "New York Times", "aber Chinas Wirtschaft, die vor 30 Jahren etwa so groß war wie die Russlands, ist heute zehnmal so groß." Will heißen: Profit schlägt Freundschaft.
Einen Blankoscheck aus Peking gab es nie, es wird ihn auch nie geben. Darin besteht die Hoffnung.
Quellen: "The Diplomat"; "The Atlantic"; "Foreign Policy"; "New York Times"; "BBC"; "The Guardian"