Deanne Overstreet kann schon gar nicht mehr zählen, wie viele Tage sie Freiwilligendienste geleistet hat. In den vergangenen Monaten klopfte sie an mehrere Tausend Türen, führte Tausende Telefonate. Sie registrierte Wähler, studierte alle Wahlkampf-Broschüren, nahm Freiwillige aus anderen Bundesstaaten in ihrem kleinen Haus auf. Die 38-jährige Verwaltungsangestellte aus Las Vegas ist so engagiert, dass sie vor einigen Monaten sogar ein Training absolvieren durfte. Jetzt ist Deanne Overstreet in der strengen Befehlskette der Graswurzelbewegung Obama bereits zur "Nachbarschafts-Leiterin" aufgerückt. Sie untersteht den "Feldorganisatoren" im Stadtteilbüro Las Vegas, Nordwest. Dies ist eines von sechs Büros in Las Vegas, eines von 15 in Nevada mit seinen 2,5 Millionen Einwohnern, eines von weit über Tausend in den USA.
In diesen letzten Tagen vor der #link;http://www.stern.de/politik/ausland/us-wahl-90440668t.html;Wahl ist Deanne jeden Abend unterwegs, ein letzter, großer "push", letzte Überzeugungsarbeit von Tür zu Tür. Und dann wird sie auch ihre Fahrdienste für den Wahltag anbieten. Will Wähler zu den Wahllokalen fahren. "Auch, wenn das Benzin knapp wird", sagt sie und versucht zu lachen. Seit ihr Mann, ein Computerdesigner, arbeitslos wurde, müssen sie jeden Cent umdrehen. Manchmal reicht es am Monatsende nicht mehr für das Benzin. Dann muss sie sich Geld leihen. "Aber wir wollen alles tun, was wir können, um Barack zum Sieg zu verhelfen." "Barack" sagt sie, wie zu einem Freund. Nicht Barack Obama. Deanne Overstreet glaubt fest an Obamas Sieg. Daran, dass dieser Sieg auch von ihr abhängt. Und daran, dass diese Wahl vor allem in Amerikas Westen entschieden wird. In Staaten wie Colorado, New Mexiko und - Nevada. Dort, wo bislang immer die Republikaner gewannen.
Die Eroberung des Wilden Westens gehört zu den Pfeilern in Obamas Wahlkampfstrategie. Denn über den Sieg entscheidet ja nicht allein die Mehrheit der Stimmen, sondern die Mehrheit der Wahlmänner aus den einzelnen Bundesstaaten. Schon früh entschieden Obamas Strategen: Auf keinen Fall darf er sich allein auf die "klassischen" Bundesstaaten wie etwa Florida oder Ohio verlassen. Daran war John Kerry vor vier Jahren gescheitert. Nur wenige Stimmen hatten ihm damals in Ohio gefehlt. Hätte Kerry die 20 Wahlmänner aus Ohio bekommen - er hätte die Präsidentenwahl gewonnen. Der Westen ist Obamas Rückfallposition. Hier sind 19 Wahlmänner zu holen. Er will ganz sicher gehen. Siege im Westen könnten mögliche Verluste in anderen Bundesstaaten aufwiegen.
Es ist ein kühner Angriff auf eine republikanische Bastion. Hier im individualistischen Westen versteht man sich noch als Cowboys, Eroberer, Goldgräber, und man wählt seit 40 Jahren recht zuverlässig republikanisch. Als demokratischer Präsidentschaftskandidat dürfte man hier eigentlich weder Zeit noch Geld verschwenden. Aber Obama warf die alten Regeln einfach über den Haufen.
Kampf um Hispanics und Asiaten
Kühl rechnete sich Obama seine Chancen aus. Auch in Colorado, New Mexiko, Nevada würde er sich den demographischen Wandel der vergangenen Jahre zunutze machen, das dynamische Bevölkerungswachstum. Zum einen den Zuzug von jüngeren, besser gebildeten Menschen in Städten wie Denver. Hier in Colorados Hauptstadt am Fuß der Rocky Mountains haben sich in den vergangenen Jahren viele College-Absolventen angesiedelt. Junge Familien, empfänglich für die Botschaft des Wandels. Denn auch sie wollen "change": alternative Energien, ein Ende des Irak-Krieges, eine Krankenversicherung für alle Bürger. Auch die zunehmende Verstädterung des Westens ist ein Vorteil für die Demokaten. In Colorado etwa haben sie einen demokratischen Senator gewählt, einen demokratischen Bürgermeister für Denver.
Und hier im Westen wirbt Obama erfolgreich um eine weitere wichtige Gruppe: Um Hispanics und Asiaten, die hier bis zu 25 Prozent der Bevölkerung stellen. Es sind die Arbeiter in den Schlachthöfen Denvers, die Tellerwäscher in den monströsen Casino-Hotels von Las Vegas, aber auch die wohlhabenderen, aus Mittelamerika stammenden Einwanderer der zweiten Generation in den besseren Wohnvierteln von Albuquerque, New Mexiko. Viele von ihnen hätten lieber Hillary Clinton gewählt. Doch auf die Republikaner sind sie wegen derer radikalkonservativen Einwanderungspolitik nicht gut zu sprechen.
Und viele von ihnen sind engagiert wie nie. Lassen sich zur Wahl registrieren, machen vom Briefwahlrecht Gebrauch, überzeugen ihre Freunde, Kollegen.
Barack Obama setzt auf eine neue Generation, ein neues Amerika. Er setzt auf das Amerika des 21. Jahrhunderts.
Angst um den Job und das eigene Haus
Natürlich hilft ihm auch hier im Westen die Wirtschaftskrise. Auch hier hofft man auf ihn als den kompetenten Mann mit ruhiger Hand, der das Land wieder auf den richtigen Weg führen kann.
Denn hier, in Las Vegas etwa, hat die Wirtschaftskrise längst begonnen: Kurzarbeit in den Hotels, Entlassungen und massenhafte Zwangsversteigerungen von Häusern. In einigen Wohnvierteln im brav-bürgerlichen Nordwesten von Las Vegas, in denen Deanne für Obama um Stimmen wirbt, steht mittlerweile jedes dritte Reihenhäuschen, jede dritte Wohnung leer. Zwangsgeräumt. Auch Dianne hat Angst um ihren Arbeitsplatz. Wenn sie den verliert, kann sie die Hypothek für ihr kleines Häuschen nicht mehr bezahlen. Erhofft sie sich schnelle Besserung von Barack Obama? Nein, sagt sie da, sie wisse, es werde hart und es werde lang dauern. "Aber er macht uns Nichts vor. Endlich einer, der uns wie erwachsene Menschen behandelt."
Überall im Land hat Barack Obama in den vergangenen 20 Monaten eine Wahlkampforganisation aufgebaut, die schon jetzt als "historisch" beschrieben wird. Er hat die alten Erfahrungen der Bürgerbewegungen mit modernem Marketing und dem High-Speed-Internet vernetzt. Er schwimmt in Geld: Mehr als 600 Millionen Dollar spendete man ihm bislang, noch nie in der Geschichte verfügte ein Politiker über einen so großen Wahlkampfetat. Pro Tag gibt er jetzt zwei Millionen Dollar für Fernsehwerbung aus. Allein in Denver schaltet er siebenmal so viel TV-Spots wie John McCain. Aber vor allem setzt Barack Obama auf die Basis. Auf das Engagement der Bürger. Auf Amerikas beste Tugenden: "Get engaged". Engagiert Euch! Tut etwas für Euer Land.
400 Wahlkampfprofis allein in Colorado
Er eröffnete mehr als 50 Büros in Colorado, 40 in New Mexiko. So viel Demokraten gab es hier noch nie. Tausende Freiwillige schuften für Obama, dazu Hunderte festangestellte Wahlkampfprofis. 400 sollen es allein in Colorado sein. Die genauen Zahlen sind geheim, die festen Mitarbeiter dürfen nicht mit der Presse sprechen. Befehl aus der Wahlkampfzentrale in Chicago.
Denn im Wahlkampf des Barack Obama wird Nichts dem Zufall überlassen. Wie eine Armee ist die Organisation aufgebaut, die Hierarchie ist streng, jeder hat genaue Instruktionen zu befolgen. Anrufe haben nach einem genauen Fragenkatalog zu erfolgen. Vorgegeben auch, welche Fragen zu stellen sind, um die gigantische Datenbank "Votebuilder" zu aktualisieren, die Informationen über fast jeden Wähler speichert. Und wenn die Wahlhelfer an Türen klopfen, dann wissen sie aufgrund dieser Datenbank ganz genau, nach wem sie fragen sollen.
Seit Monaten sind Obamas Wahlhelfer unermüdlich unterwegs, sie registrieren Wähler, erklären das Briefwahlverfahren, bringen Broschüren an jede Haustür. Und fast täglich ist nun einer der demokratischen Superstars im Westen zu Gast. Hillary Clinton tritt in Kleinstädten Colorados auf, Michelle Obama reist nach New Mexiko, Vizekandidat Joe Biden reist an ebenso wie Bill Richardson, der populäre Gouverneur von New Mexiko. Und Obama selbst bricht wieder einmal alle Rekorde. Am vergangenen Sonntag etwa war er in Denver. Rund 100.000 Menschen wollten ihn hören, und in Nevada, dem Wüstenstaat, war er schon 19 Mal.
Denn John McCain ist keinesfalls zu unterschätzen. Im Westen haben die Republikaner eine große Basis, und auch sie beherrschen das "ground game", die Organisation vor Ort. Auch sie beherrschen die Operation "GOTV", Get out the vote: bringt die Wähler an die Wahlurnen. Auch hier operieren sie mit der Angst: So tauchte auch in Colorado das einstündige Video über islamische Terroristen auf. Von einer konservativen Gruppe produziert, wurde es landesweit an 28 Millionen Haushalte verschickt und soll den Wählern ordentlich Angst machen vor Barack - Hussein - Obama.
Es ist eine epische Schlacht, genau das Richtige für den Wilden Westen. Der Westen, das ist mehr als 19 Wahlmänner. Der Westen ist ein Symbol: Wenn Barack Obama den Westen holt, dann wird man vom Ende einer Ära sprechen. Vom wahren Ende der Ära Reagan, der konservativen Revolution. John McCain wäre dann nur noch der Sargträger. Eine ziemlich tragische Rolle.