Gibt es in Kriegszeiten überhaupt belastbare Gewissheiten? Praktisch jeden Tag ändert sich die Geschwindigkeit an der Front, stellen sich neue Fragen um das russische Kriegstreiben in der Ukraine und die (eigentlichen) Absichten von Präsident Wladimir Putin.
In den vergangenen Tagen und Wochen haben die US-Geheimdienste auffallend viele Antworten auf eine Vielzahl an Fragen gegeben. Sie zeigen sich gut informiert. In den Augen des Kremlherrschers, der Ungewissheit und Verunsicherung zu seinem Waffenarsenal zählt, vielleicht zu gut.
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Hat Moskau tatsächlich eine neuartige Hyperschall-Rakete auf Odessa gefeuert, wie behauptet? Die US-Geheimdienste widersprechen. Könnten sich die strategischen Ziele von Putin verändert haben, angesichts der für den Kreml ernüchternden Kriegsbilanz? Die US-Geheimdienste sehen das anders, er könnte noch weiter gehen, im Angesicht einer drohenden Niederlage sogar zu Nuklearwaffen greifen. Und jetzt? Setzt der Präsident darauf, dass die Entschlossenheit des Westens im Laufe der Zeit schwinden werde, meinen die Geheimdienste.
Und das sind nur einige der US-Erkenntnisse, die allein in den vergangenen 72 Stunden kommuniziert wurden.
Der russische Angriffskrieg hat vielen vermeintlichen Gewissheiten die Grundlage entzogen, insofern auch dieser: Dass Nachrichtendienste im Stillen agieren und aus den gesammelten Informationen exklusive Schlüsse ziehen. Der britische Militärgeheimdienst veröffentlicht sogar jeden Tag in einem kurzen Briefing seine aktuelle Einschätzung der Lage.
Das ungewöhnlich öffentliche Vorgehen verfolgt mehrere Zwecke, dient etwa als Konter gegen gezielte Desinformationen, aber auch als Botschaft an die Invasoren, dass nichts unbeobachtet bleibt.
Mal erweist sich das gesammelten Wissen als erschreckend konkret, wie die präzise Vorhersage der USA über den russischen Einmarsch in die Ukraine, mal als schwammige Prognose, die nächsten Wochen könnten "hässlich" werden. Besonders heikel wird es jedoch, wenn sich dieses Wissen auch als tödlich erweist.
Zwei brisante Berichte der US-Geheimdienste, eine Sorge
So hatten die Vereinigten Staaten die Ukraine mit Informationen versorgt, die zur Lokalisierung und Tötung mehrerer russischer Generäle führte. "US-Geheimdienste helfen der Ukraine dabei, russische Generäle zu töten", schlagzeilte die "New York Times", die sich in ihrem Bericht auf die Aussagen mehrerer hochrangiger Regierungsmitarbeiter stützt.
Die Brisanz der Nachricht war offenkundig, das zeigte nicht zuletzt die wortreiche Reaktion von Pentagon-Sprecher John Kirby. Es sei zwar richtig, dass die USA die Ukraine mit Informationen versorge. Aber: Weder liefere man Informationen über den Aufenthalt von russischen Offizieren auf dem Schlachtfeld, noch beteilige man sich an den Entscheidungen der ukrainischen Armee. "Die Ukraine kombiniert die Informationen, die sie von uns und anderen bekommen, auf dem Schlachtfeld. Und dann treffen sie ihre eigenen Entscheidungen und handeln", beschwichtigte Kirby.

Keine 48 Stunden später berichteten mehrere Medien unter Berufung auf nicht namentlich genannte Quellen, die "Moskwa" – das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte – sei mithilfe von US-Geheimdienstinformationen versenkt werden. Hunderte Mann sollen auf dem bedeutenden Raketenkreuzer gewesen sein, es wird von Dutzenden Toten ausgegangen. Dieses Mal äußerte sich die Sprecherin des Weißen Hauses: "Wir haben der Ukraine keine spezifischen Zielinformationen für die 'Moskva' zur Vefügung gestellt", betonte Jen Psaki, und nannte die Berichte überzogen. "Wir hatten keine vorherige Kenntnis von der Absicht der Ukrainer, das Schiff anzugreifen."
Ganz gleich, wie entscheidend die US-Erkenntnisse für die ukrainische Armee letztlich waren, veranschaulichen die Veröffentlichungen doch zwei Dinge. Erstens: Die USA unterstützen die Ukraine wohl weitreichender als bisher bekannt war. Zweitens: Den Eindruck, man mische sich damit (in-)direkt in die Kampfhandlungen ein, wollen die USA unbedingt vermeiden.
Eine hochsensible Angelegenheit
Denn jeder Schritt könnte einer zu viel sein. Zwar ist im Völkerrecht ausbuchstabiert, wer Kriegspartei ist und wer nicht. Allerdings hat es Russlands Präsident mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zur Makulatur erklärt.
Das stellt die Verbündeten der Ukraine, die das Land massiv mit Waffen und Geld unterstützen, vor ein Dilemma, das der Philosoph Jürgen Habermas als "Putins Definitionsmacht" bezeichnete: Wann die Grenze des formalen Kriegseintritts überschritten ist, entscheidet (auch) der Aggressor aus Russland.
Entsprechend sorgsam wird jede Unterstützung für die Ukraine abgewogen und abgesprochen, wie auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) immer wieder betont, um keine weitere Eskalation der Lage zu riskieren. Schon jetzt drohen Putin und seine Kremlposse überengagierten Unterstützern der Ukraine mit "blitzschneller" Vergeltung oder denken laut über die "sehr reale" Gefahr eines Dritten Weltkriegs nach.
Für die USA ist die Gemengelage hochsensibel: Einerseits will sie die Ukraine bestmöglich unterstützen, gar zum "Sieg" verhelfen, andererseits nicht selbst zur Kriegspartei werden. Auch US-Präsident Joe Biden scheint sich dieser Zwickmühle bewusst.
Nach den jüngsten Durchstechereien soll er zwar die Bedeutung seiner Geheimdienste betont, allerdings auch eine Ermahnung ausgesprochen haben. Wie NBC News berichtete, habe der Präsident in Telefonaten mit dem CIA-Direktor William Burns, der Nationalen Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines und Verteidigungsminister Lloyd Austin die Medienleaks als kontraproduktiv bezeichnet. Das Durchstechen von Informationen müsse aufhören, forderte Biden, wie zwei Regierungsvertreter dem US-Sender berichteten.
Offenkundig findet der US-Präsident, dass einigen Mitarbeitern in seiner Nachrichtendienste – immerhin 18 an der Zahl mit einem diesjährigen Gesamtbudget von rund 85 Milliarden US-Dollar – die Zunge etwas zu locker sitzt. Immerhin: Einen Kommentar zum Machtwort des Präsidenten lehnten die Gerüffelten gegenüber NBC News ab. Ganz diskret.