Propaganda-Show Putin feiert seinen Ukraine-Feldzug – doch die Kriegsbilanz ist keine Erfolgsgeschichte

Wladimir Putin, Präsident von Russland
Wladimir Putin, Präsident von Russland, hält im Rahmen der Militärparade zum "Tag des Sieges" auf dem Roten Platz in Moskau eine Rede
© Mikhail Metzel/Pool Sputnik Kremlin/AP / DPA
Russlands Präsident Wladimir Putin hat gemessen an dem, was befürchtet wurde, eine kleinlaute Rede zum "Tag des Sieges" gehalten. Die Kriegsbilanz des Kreml in der Ukraine ist keine Erfolgsgeschichte. 

Der große Knall ist ausgeblieben. Weder kündigte Wladimir Putin eine Generalmobilmachung an, noch erklärte er der Ukraine offiziell den Krieg. Stattdessen begründete der Kremlherrscher die militärische "Spezialoperation", wie der Militäreinsatz in Russland genannt werden muss, mit der Nato-Expansion, einer "inakzeptablen Gefahr", vor der das "Vaterland" verteidigt werden müsse. Noch etwas? Ach ja: Es müsse alles getan werden, um zu verhindern, dass sich "der Schrecken eines globalen Krieges wiederholt."

Russlands Präsident hat gemessen an dem, was von seiner Ansprache am "Tag des Sieges" befürchtet wurde, eine kleinlaute Rede gehalten, die praktisch nicht über die hinlänglich bekannte wie bizarre Rhetorik des Kreml hinausgeht. 

Das war nicht unbedingt zu erwarten. Der 9. Mai ist ein besonderes Datum, Russland zelebriert das Ende des "Großen Vaterländischen Krieges" und den Sieg über Nazi-Deutschland mit einer großen Militärparade in Moskau. Viele Beobachter gingen davon aus, dass der fanatische Geschichts- und Zahlenfreak Putin den historisch aufgeladenen Tag dafür nutzen könnte, das eigene Kriegstreiben in der Ukraine als Erfolg zu verkaufen und noch weiter zu eskalieren. 

Dass es anders gekommen ist, dürfte auch dem Umstand geschuldet sein, dass es aus russischer Sicht nicht viel zu Feiern gibt. Schlechte Planung, unerwartete Gegenwehr, eine marode wie unmotivierte Armee und hohe Verluste – ein "Blitzsieg", den sich Putin in der Ukraine offenkundig versprochen hatte, ist ausgeblieben, von einem "Tag des Sieges" kann in dieser Hinsicht nicht die Rede sein. Bundeskanzler Olaf Scholz bilanzierte unlängst: "Putin hat sich vollständig verrechnet."

Die russische Kriegs-Bilanz am "Tag des Sieges"

Am 75. Tag des Überfalls auf die Ukraine steht fest: Die russische Armee, zu Beginn der Invasion als hochgerüstete Übermacht gefürchtet, kann das Land nicht im Handstreich überrennen (oder "befreien", so die Lesart des Kreml).

  • "Das Hauptziel Russlands ist gescheitert", sagte der US-Militärexperte Michael Kofman zum "Spiegel": "der Regimewechsel in der Ukraine". Russland baute zu Beginn der Invasion offenkundig auf eine blitzartige Besetzung der ukrainischen Hauptstadt Kiew mit dem Ziel, die ukrainische Führung zur Kapitulation zu zwingen. Ein Fehlschlag: Den ukrainischen Streitkräften gelang es, den russischen Vormarsch zu stoppen.
  • Moskau zog seine Truppen daraufhin aus dem Raum Kiew und dem Norden ab, um sich militärisch auf die Donbass-Region im Osten zu konzentrieren. Der rasche Rückzug aus den Gebieten im Norden und Nordosten, also das offensichtliche Scheitern der Offensive, wurde kurzerhand als Teil der Strategie ausgegeben.
  • Doch auch dort kommt die Offensive nur schleppend voran: Die russischen Truppen machen im Donbass-Gebiet seit Tagen kaum Geländegewinn, die seit Monaten umkämpfte Hafenstadt Mariupol ist immer noch nicht vollständig eingenommen, rund um Charkiw drängen ukrainische Truppen die Invasoren sogar immer weiter zurück.

Putin rechnete offenbar mit einem schwachen Gegner und einem schnellen Sieg, ähnlich wie bei der Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014. Stattdessen trafen die russischen Invasoren auf eine unerwartet wehrhafte ukrainische Armee und Zivilbevölkerung.

Dabei sind geradezu skurrile Missstände zum Vorschein gekommen. Schon kurz nach Kriegsbeginn haben westliche Geheimdienste russische Funksprüche abgefangen, die ...

  • ... überhaupt erst abgefangen werden konnten, weil offenbar nicht nur verschlüsselt kommuniziert wird. Westliche Geheimdienstler berichteten dem "Spiegel" etwa, dass Offiziere nicht im Umgang mit Funkgeräten für verschlüsselte Verbindungen geschult seien. Kommandeure würden mit handelsüblichen Mobiltelefonen über das ukrainische Netz telefonieren. Folglich könnten die Ukrainer Telefongespräche abhören.
  • ... eine niedrige Moral der Truppen erahnen lassen. "Manchmal haben wir sie (die russischen Soldaten) im Kampf weinen gehört, manchmal haben sie sich gegenseitig beschimpft – kein Zeichen für eine gute Moral", sagte ein belgischer Ohrenzeuge im britischen "Telegraph". Zudem schienen viele Soldaten, zumindest anfangs, "in völliger Verwirrung zu operieren. Sie haben keine Ahnung, wohin sie gehen und wie sie richtig miteinander kommunizieren können", so der Belgier weiter. 
  • ... eine marode Armee offenbaren. So berichtete etwa der "Spiegel" über ein heimlich abgefangenes Gespräch zwischen Zeitsoldaten aus dem Kaukasus, in dem sie sich etwa über kaputte Panzer, ungenaue Artillerie, verbogene Granatwerfer und fehlende Funkgeräte beklagten.  

Aus dem geplanten Blitzkrieg und -Sieg ist nichts geworden, Experten erwarten unlängst einen Abnutzungskrieg – der schon jetzt hohe Verluste für Russland zur Folge hat. 

  • Schätzungen der Nato zufolge, wurden innerhalb des ersten Kriegsmonats bis zu 40.000 russische Soldaten getötet, verletzt, gefangen genommen oder vermisst. Das Verteidigungsbündnis ging Ende März davon aus, dass zwischen 7000 und 15.000 russische Soldaten gefallen seien. Auch das britische Verteidigungsministerium sprach zu diesem Zeitpunkt "mit ziemlicher Sicherheit" von "Tausenden Opfern" in der russischen Armee. Die ukrainischen Streitkräfte zählen sogar knapp 25.650 getötete russische Soldaten. Nach offiziellen Angaben Moskaus sind es bislang 1351 getötete russische Soldaten. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
  • Die ukrainische Armee habe seit Kriegsbeginn zwölf russische Generäle durch gezielten Beschuss getötet, heißt es aus Kiew. Dabei sollen auch US-Geheimdienstinformationen geholfen haben, wie die "New York Times" berichtete. 
  • Die "Moskwa", das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, sank offenbar durch einen Raketenbeschuss des ukrainischen Militärs
  • Nach Angaben der ukrainischen Armee habe Russland seit Kriegsbeginn 1145 Panzer, 199 Kampflugzeuge und 158 Helikopter verloren. Auch seien zwölf Kriegsschiffe und Dutzende Luftabwehrwaffen und Transportfahrzeuge zerstört worden. Auch diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Unterdessen rückt die westliche Allianz zusammen, die Unterstützer der Ukraine präsentieren sich geschlossener und entschlossener denn je. Russland wird immer weiter isoliert. 

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"Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen", sagte Bundeskanzler Scholz in seiner TV-Ansprache vom Sonntag. Die USA formulieren ihre Ziele wesentlich offensiver, auf einen langanhaltenden Konflikt stellen sich jedoch alle westlichen Verbündeten ein.

Dass der russische Präsident am "Tag des Sieges" die schlimmsten Befürchtungen des Westens nicht erfüllte, muss indes kein Grund zur Erleichterung sein.

Zuletzt wurden die Drohgebärden Putins und seiner Kremlposse immer unverhohlener und schriller, etwa "blitzschnelle" Vergeltung gegen überengagierte Unterstützer der Ukraine zu üben und die Gefahr eines Dritten Weltkriegs für "sehr real" zu halten.

Rede zum Tag des Sieges: Keine Kriegserklärung oder Generalmobilmachung – dafür beschuldigt Putin den Westen, Russland angreifen zu wollen
Keine Kriegserklärung oder Generalmobilmachung – dafür beschuldigt Putin den Westen, Russland angreifen zu wollen

Einen russischen Atomangriff halten Spezialisten für Nuklearwaffen, Russlandforscher und Außenpolitiker zwar für sehr unwahrscheinlich, dennoch: Eine weitere Eskalation ist nicht ausgeschlossen – auch oder gerade weil sich der Einsatz für Putin stetig erhöht und eine Erfolgserzählung bisher ausbleibt.

Dennoch dürfte der 9. Mai, der ein "Tag des Sieges" sein sollte, zumindest für Putin auch ein schwarzer Tag gewesen sein.