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Prognosen über Kriegsverlauf Wann endet der Krieg? Kommt darauf an, wen man fragt

Russlands Präsident Wladimir Putin
Russlands Präsident Wladimir Putin
© Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP / DPA
Die Ukraine wird hochgerüstet, Russland droht mit dem Dritten Weltkrieg – die Eskalationsspirale dreht sich weiter. Der Westen stellt sich auf einen langanhaltenden Konflikt ein. 

Gibt es in Kriegszeiten überhaupt so etwas wie Gewissheiten? Zumindest gibt es allerhand Prognosen. Mal erweisen sie sich als belastbar, wie die präzise Vorhersage der USA über den russischen Einmarsch in die Ukraine, mal als unzutreffend, wie die Annahme, Kiew könnte im Handstreich fallen

Eine Prognose führt bisher immer wieder ins Leere: Wie lange wird der russische Feldzug noch dauern? Mehrere Ereignisse am Dienstag lieferten zumindest Anhaltspunkte, die nichts Gutes erahnen lassen. Und eine Erkenntnis: Der Krieg tritt offenkundig in eine neue Phase ein.

Bei einer Krisenkonferenz auf dem US-Waffenstützpunkt Ramstein vereinbarten Bündnispartner der Nato und darüber hinaus einen militärischen Schulterschluss, um der Ukraine im Kampf gegen die russischen Invasoren beizustehen. Oder in anderen Worten: Die Ukraine wird im großen Stil aufgerüstet. Auch Deutschland wird die Lieferung schwerer Waffen aus anderen Ländern unterstützen – und nun auch selbst liefern

Flankiert wurde das Treffen von Drohgebärden des russischen Außenministers Sergej Lawrow. Noch vor den Beratungen in der Pfalz schickte er eine deutliche Warnung an die westliche Allianz: "Die Gefahr ist ernst, real", sagte er in einem Interview mit dem Staatsfernsehen. "Wir sollten den Dritten Weltkrieg nicht zulassen." Lawrow warf der Nato vor, einen Stellvertreterkrieg gegen Russland zu führen und betonte, dass die russischen Truppen in der Ukraine die westlichen Waffen als "legitimes Ziel" ansehen würden.

Am Abend verkündete Russland, die Gaslieferungen an Polen und Bulgarien einzustellen, erkennbar mit dem Ziel, einen Keil in die bislang geschlossene Europäische Union zu treiben – andere Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, beziehen weiterhin Gas aus Russland (mehr dazu lesen Sie hier).

Kurzum: Der Konflikt erreicht eine neue Eskalationsstufe. 

"Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen"

Also: Wie lange wird der Krieg noch dauern? Auch am 63. Tag erweist sich eine Antwort als schwierig. Die Entscheidung über das Ende der Invasion scheint allein im Kopf des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu fallen – einem Ort, der hier als wahnhaft und dort als entrückt beschrieben wird, und sich bislang allen Versuchen der Kartografierung und Krisendiplomatie zu verweigern scheint.

Die westliche Allianz stellt sich jedenfalls auf einen langanhaltenden Konflikt ein.

Schon Ende März wollte US-Präsident Joe Biden der Welt keine Illusionen machen. "Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen", sagte Biden bei einer Rede vor dem Warschauer Königsschloss und beschwor die Geschlossenheit des Westens in einer "Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie."

Unter diesem Eindruck stand auch das Treffen in Ramstein. Der Westen bereite sich darauf vor, der Ukraine "langfristig" zu helfen, sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, "und die Verteidigung für die Herausforderungen von morgen aufzubauen." Den internationalen Dialog über Waffenlieferungen und die Ertüchtigung der ukrainischen Armee will Austin deswegen verstetigen: Die Runde vom Dienstag soll von nun an jeden Monat zusammentreffen. Folglich geht wohl niemand der Beteiligten von einem baldigen Ende des Konflikts aus.

Dass es einen langen Atem braucht, ist auch immer wieder von Robert Habeck zu hören. Der Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister muss das Land in die Energie-Unabhängigkeit von Russland führen – ohne dabei den deutschen Wohlstand zu gefährden. Ein Knochenjob

Ungewöhnlich offen für einen Spitzenpolitiker gewährt Habeck dabei Einblick in die vielen Dilemmata, die seinen Job derzeit prägen. Eine dieser Zwickmühlen: Jedwede Sanktion gegen Russland muss so gestaltet sein, dass Deutschland sie zwei oder drei Jahre "stehen" könne, wie er es formuliert. Das ist der Zeithorizont, mit dem Habeck arbeitet. Vor diesem Hintergrund ist zumindest ein Öl-Embargo für Deutschland nun "handhabbar" geworden, wie er am Montag überraschend in Warschau ankündigte. 

Wo stoppen Putins Panzer?

Die Lage verändert sich praktisch täglich, so auch die Geschwindigkeit des Krieges und damit die Frage, wie man auf aktuelle Entwicklungen reagieren könnte. Olexij Arestowytsch, Berater des ukrainischen Präsidenten, ist sich dennoch sicher: "Wir müssen uns auf eine lange Geschichte einstellen." 

Seiner Einschätzung nach könne sich der russische Angriffskrieg noch über viele Monate hinziehen, wie er laut ukrainischer Nachrichtenagentur Unian in einem Youtube-Interview sagte. Die von seinem Land neu erhaltenen Waffen könnten Ende Mai, Anfang Juni "ernsthafte Auswirkungen" auf das Kampfgeschehen haben, so Arestowytsch. Der Krieg selbst könnte noch bis Ende des Jahres dauern. 

Russlands Präsident Putin erweckt jedenfalls nicht den Anschein, die "Spezialoperation" – wie der Krieg in Russland genannt werden muss – auf absehbare Zeit einstellen zu wollen. Der Kremlherrscher lässt die Kampfhandlungen brutalisieren und die Offensive in der Ostukraine intensivieren, offenbar in dem Bestreben, der Bevölkerung bis zum symbolisch aufgeladenen "Tag des Sieges" am 9. Mai einen militärischen (Teil-)Erfolg verkünden zu können.

Und dann?

Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zufolge gehen Moskaus Ziele weit über die Ukraine hinaus. "Das ultimative Ziel der russischen Führung ist nicht nur die Eroberung der Ukraine, sondern die Zerschlagung des gesamten Zentrums und des Ostens Europas", sagte Selenskyj in seiner allabendlichen Videobotschaft, die in der Nacht zu Mittwoch auf Telegram veröffentlicht wurde. Auch ein "globaler Schlag gegen die Demokratie" gehöre zu dem Ziel.

So warnte das ukrainische Militär unlängst vor einer Aktivierung russischer Truppen in der abtrünnigen Teilrepublik Transnistrien in Moldau. Transnistrien wird de facto seit den 90er Jahren von einem prorussischen Regime regiert. In der Republik Moldau, zwischen der Ukraine und Rumänien gelegen, wird daher befürchtet, dass nach einem möglichen Sieg der russischen Invasoren im Nachbarland der Kreml seine Armee auch in ihr Land einmarschieren lassen könnte. 

Die Suche nach einem Ausgang

Wie lässt sich also ein mögliches Kriegsende herbeiführen und weiteres Blutvergießen verhindern? An der Frage beißen sich auch die selbstbewusstesten Putin-Apologeten die Zähne aus. Allein: Russland schreckt auch vor Kriegsverbrechen nicht zurück, um seine Ziele noch zu erreichen. Beobachter brüten daher schon seit Wochen über mögliche Exit-Szenarien, die einen Weg aus der Eskalationsspirale weisen könnten

Der Konfliktforscher Andreas Heinemann-Grüder von der Universität Bonn hält das Szenario der "wechselseitigen Auszehrung" derzeit am wahrscheinlichsten. "Irgendwann kommt dieser Verdun-Moment, an dem beide Seiten einsehen, dass sie keine sinnvollen Geländegewinne mehr machen können", sagte er dem "Spiegel".

"An dem Punkt sind beide Seiten noch nicht, das ist eine Frage der Zeit." Wann die Zeit gekommen sei, lasse sich kaum vorhersagen, "aber in zwei Monaten dürften die Russen wirtschaftlich infolge der Sanktionen ausgebremst sein", so Heinemann-Grüder. "Militärisch sind die Kriegsverbrechen in Butscha oder Mariupol auch Ausdruck dessen, dass sich das ursprüngliche Kriegsziel nicht erreichen lässt."

Könnte Putin also einen Rückzieher machen? Der britische Premierminister äußerte zumindest die Einschätzung, dass der russische Präsident den "politischen Spielraum" habe, seine Invasion gesichtswahrend zu beenden. Dies liege an der "massiven russischen Unterstützung für sein Handeln und der offensichtlichen Vergesslichkeit der russischen Medien," wie er am Dienstag dem Sender TalkTV sagte. Putin könne dem russischen Volk sagen, dass die in der Ukraine begonnene Operation "vollendet" und "technisch ein Erfolg" gewesen sei – auch wenn dies vielleicht nicht den Tatsachen entspreche.

Unter Militärexperten gilt mittlerweile als Tatsache, dass sich Putin von seinem Angriffskrieg einen Blitzsieg versprochen und dabei verkalkuliert hat. Das ukrainische Militär und die Bevölkerung haben eine nicht erwartete Widerstandskraft gezeigt. Mehrere Nato- und EU-Staaten schicken der Ukraine Waffen und Geld zur Unterstützung, haben noch nie dagewesene Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen den Aggressor verhängt – und setzen weitere ins Werk.

Und ein Ende ist nicht in Sicht: "Wir wissen nicht, wie der Rest des Krieges verlaufen wird", sagte US-Außenminister Antony Blinken am Montagmorgen nach einem Besuch in Kiew. "Aber wir wissen, dass eine souveräne und unabhängige Ukraine sehr viel länger existieren wird als Wladimir Putin auf dieser Bühne." Die Unterstützung für die Ukraine werde weitergehen. "Sie wird weitergehen, bis wir einen endgültigen Erfolg sehen."

Dabei verfolgen die USA offenbar eine sehr viel längerfristige Strategie, die über den Krieg in der Ukraine hinausgehen könnte: "Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist", so Blinken.

Die Botschaft, zwischen den Zeilen: Die Schlacht gegen Russland ist noch lange nicht geschlagen.  

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