Thüringens Ministerpräsident Ramelow zu Flüchtlingsstreit: "Das ist eine Mogelpackung"

Thüringens Ministerpräsident: Ramelow zu Flüchtlingsstreit: "Das ist eine Mogelpackung"
© Michael Reichel / Picture Alliance / DPA
Zu einem Flüchtlingsgipfel wollen Bund und Länder Mitte November zusammenkommen. Zu spät, findet Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke). Im Gespräch mit dem stern fordert er einen Kurswechsel in der Migrationspolitik.

Herr Ramelow, was läuft schief bei der der Flüchtlingspolitik der Ampel?
Bodo Ramelow:
Die Unterbringung, Versorgung, Integration in den Arbeitsmarkt und Bildungseinrichtungen von Geflüchteten erfolgt durch Länder und Kommunen. Die Erwartung an den Bund ist, sich an den dafür entstehenden Kosten gerecht zu beteiligen. Der Bundesfinanzminister lehnt dies bislang ab. Da sollte der Kanzler endlich mal von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen. Als früherer Hamburger Bürgermeister und ehemaliger Bundesfinanzminister kennt er die Lage von Ländern und Kommunen doch sehr genau.

Erst im Mai hat der Bund den Ländern eine Milliarde Euro extra für dieses Jahr zugesagt. Warum reicht das plötzlich nicht mehr?
Weil das eine Mogelpackung ist. Da hat der Bund einfach eine Milliarde vorgezogen, die er ohnehin für die Digitalisierung der Ausländerämter zur Verfügung stellen wollte. Jetzt tut er so, als ob das großzügig wäre.

Reicht eine flexible Finanzierung der Flüchtlingsversorgung aus, um die Lage in den Kommunen in den Griff zu bekommen?
Nicht allein. Mindestens genauso wichtig ist die Beschleunigung der Asylprüfverfahren. Was die Bundesregierung offenbar immer noch nicht verstanden hat, ist, dass man den Menschen, die da sind, erlauben muss hier zu arbeiten. Anstatt die Geflüchteten nach ihrer Ankunft zum Nichtstun zu verdonnern, sollte endlich alles dafür getan werden, dass sie so schnell wie möglich einen Job oder eine Berufsausbildung bekommen.

Schon jetzt dürfen ukrainische Flüchtlinge mit einem vorläufigen Aufenthaltstitel sofort Arbeit aufnehmen.
Das stimmt leider nicht ganz. Es muss einfach allen Bürgergeldberechtigten gestattet sein, vom ersten Tag an arbeiten zu gehen. Auch ohne einen Sprachnachweis. Die Sprache kann oft sehr gut im Betrieb vermittelt werden. Wenn zum Beispiel ein Portugiese oder Rumäne in einen Thüringer Betrieb zur Arbeit geht, muss dank der EU-Freizügigkeit vorher auch niemand prüfen, wie gut er Deutsch spricht. 

Bodo Ramelow: "Auch Analphabeten haben Fähigkeiten" 

Nun gibt es nicht nur ukrainische Flüchtlinge, die im Durchschnitt über eine recht hohe Bildung verfügen, sondern auch Menschen aus anderen Ländern, die keine Qualifikation haben und zum Teil sogar Analphabeten sind.
Auch Analphabeten haben doch Fähigkeiten. Es gibt viele Betriebe in Thüringen, da werden nicht nur Hochqualifizierte, sondern Produktions- oder Erntehelfer gebraucht. Fürs kommende Jahr fehlen uns 450.000 Arbeitskräfte in ganz Deutschland. Wenn man weiß, dass bis 2040 alleine in Thüringen 23,9 Prozent aller aktiven Arbeitskräfte durch Verrentung aus den Betrieben ausscheiden werden, dann kommt es darauf an jedes Talent, jede Hand und jeden Kopf zu nutzen. Da sollten doch viel mehr Menschen willkommen sein.

Haben Scholz und die Ampel die Bedeutung des Themas verkannt?
Die Bundesregierung glaubt, dass sie vor allem mit Geld alles steuern kann. Das ist gefährlich, weil es auch eine Neiddebatte befördert. Ich höre immer wieder den Vorwurf, dass die Flüchtlinge alles bezahlt bekämen und nichts dafür tun müssten.

Bund und Länder wollen sich im November zu einem Flüchtlingsgipfel treffen. Kommt das zu spät?
Wenn nicht endlich Schritte unternommen werden, um eine Finanzierung der Flüchtlingskosten mit einem leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt zu kombinieren, ist dieser Termin zu spät.

"Wir hatten schon viel höhere Zahlen"

Brauchen wir eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen?
Eine Obergrenze widerspricht dem individuellen Recht auf Asyl und der Genfer Flüchtlingskonvention.

Aber überfordern zu viele Flüchtlinge nicht unsere Gesellschaft?
Die Wahrheit ist, dass wir schon höhere Zahlen hatten. 2016 etwa, als es über 700.000 Asylanträge in Deutschland gab. Die Krisen auf der Welt zeigen auch, dass weiter mehr Menschen aus unterschiedlichen Gründen auf der Flucht sein werden. Einen Teil des Druckes auf die Gemeinden und Verwaltungen könnte man deutlich reduzieren, wenn wir uns ehrlich machen und Arbeitsmigration leichter ermöglichen, wenn wir in den Hauptländern, aus denen sich spätere Asylbewerber aufmachen, geordnete Brücken der Arbeitsmigration auch ermöglichen. Dann würden wir den kriminellen Schlepperorganisationen das Geschäftsmodell zerstören.

Selbst wenn das gelänge, haben wir es auf absehbare Zeit noch mit einer großen Zahl von Geflüchteten zu tun.
Unsere Geburtenstatistik ist hier eindeutig: Auf 1.175.870 Personen des Jahrganges 1958 folgen nur 719.250 des Jahrganges 2003 und damit zeigt sich die Lücke bei den potentiellen Arbeitskräften. Dieser Trend wird in den nächsten 15 Jahren so anhalten. Um bestimmte Arbeit überhaupt noch zu leisten, brauchen wir Zuwanderung.

Zuwanderung ist das eine, illegale Migration das andere. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat sich lange gegen stationäre Kontrollen an der Grenze zu Polen und Tschechien gesperrt. Jetzt sollen diese doch kommen. Der richtige Weg?
Nein, das ist eine Scheindebatte. Laut der Gewerkschaft der Polizei sind stationäre Grenzkontrollen in der Praxis wenig wirksam. Wenn über die polnische Grenze Menschen mit gekauften Visa kommen, die ihnen Vertreter der polnischen Regierung vermittelt haben, dann bringen Grenzkontrollen gar nichts. 

Sie spielen auf den Visa-Skandal an, der Polen derzeit erschüttert. Wie können Schlepper sonst wirksam bekämpft werden und dafür gesorgt werden, dass weniger Menschen nach Deutschland kommen?
Gegen Schlepper muss mit ganzer Kraft gefahndet werden. Mir ist auch wichtig, dass zusammen mit den Herkunftsländern Möglichkeiten der regulären Arbeitsmigration geschaffen werden. Von Initiativen der Entwicklungszusammenarbeit des Bundes, um Fluchtursachen zu beschränken, hört man übrigens schon lange nichts mehr. Und eine bessere europäische Verteilung braucht eben auch mehr Engagement.

"Der CDU-Chef will den starken Mann markieren"

Eine Frage zur Thüringer Innenpolitik: Die CDU plant ein Verbot von Gendersprache. Sie wäre dabei erneut auf die Zustimmung der AfD angewiesen. Wie stehen Sie dazu?
Es ist mir ein Rätsel, warum in unserer Sprache etwas verboten werden soll, was gar nicht angeordnet wurde. Wir haben hier kein Gendergesetz geplant, an dem man sich jetzt abarbeiten muss. Offenbar will Thüringens CDU-Chef erneut den starken Mann am Stammtisch markieren. Da sitzt leider schon das Original von der AfD. Vielleicht erinnert sich aber diesmal wenigstens die FDP in Thüringen, dass sie keine Verbotspartei sein will.

Zuvor hat die CDU die Senkung der Grunderwerbssteuer mit Stimmen der AfD gegen Ihre Regierung durch. Das hat für bundesweite Diskussion gesorgt. Haben Sie sich als Chef einer Minderheitskoalition, die auf die CDU angewiesen ist, nicht genügend um Kompromisse bemüht?
Ich habe zwei Jahre lang mit Herrn Voigt von der CDU über eine gute Familienförderung gesprochen. Die hätten wir gemeinsam vereinbaren können. Herr Voigt wollte das nicht. Jetzt gehen durch die Senkung der Grunderwerbssteuer dem Haushalt 48 Millionen Euro und den Gemeinden 18 Millionen Euro verloren. Das bezahlen letztlich auch die jungen Familien in Thüringen, die die CDU doch angeblich fördern will.