AfD-Klage gegen Ex-Kanzlerin "Ein schlechter Tag für die Demokratie": Daran hat auch Angela Merkel ihren Anteil

Angela Merkel hebt ernst den Kopf vor Flaggen stehend
Verstoß gegen das Grundgesetz: Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel während jener Pressekonferenz in Südafrika, auf der sie die Rücknahme der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen mit Stimmen der AfD forderte.
© Kay Nietfeld / Picture Alliance
Ex-Kanzlerin Angela Merkel hat mit ihrem Aufruf, die Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen rückgängig zu machen, das Grundgesetz verletzt. So hat das Verfassungsgericht urteilt. Ist die Entscheidung realitätsfremd? Die Pressestimmen.

Der Verstoß gegen das Grundgesetz ist amtlich. Als Bundeskanzlerin hätte Angela Merkel nicht tun dürfen, was sie als CDU-Funktionärin durfte: die Rücknahme der Wahl des FDP-Mannes Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit Hilfe von AfD-Stimmen zu fordern (2020). Doch ist diese Trennung, die das Bundesverfassungsgericht hohen Amtsträgern nun noch einmal eindeutig auferlegt, nicht realitätsfern? Und wissen die Wähler:innen solche Äußerungen nicht sehr wohl einzuordnen? Das sagen die Kommentatoren der Tagespresse: 

Die Entscheidung des Zweiten Senats kommt zu einer ungewöhnlichen Zeit. Mittlerweile wird die AfD vom Bundesverfassungsschutz beobachtet. Die Partei, das darf auch nicht vergessen werden, ist mehrfach auch in Karlsruhe gescheitert. Gerade aber in der fragilen Zeit eines ausfransenden, nicht mehr genau zuzuordnenden Extremismus, in der sich verfassungsfeindliche 'Querdenker' und Freunde des russischen Angriffskriegs mischen, pocht das Verfassungsgericht auf Neutralität der Amtsträger und Chancengleichheit der politischen Parteien. Jenes Gericht also, das gern als politisches Regierungsorgan verspottet wird. Gerade diese Rechtsprechung kann sich als Stabilitätsanker erweisen. In Zeiten großer und lagerübergreifender Koalitionen droht unterzugehen, dass jede Partei einmal darauf angewiesen sein kann, vor dem Gesetz gleich behandelt zu werden. Bundeskanzlerin Merkel sagte damals, das sei ein "schlechter Tag für die Demokratie" gewesen. Daran hat sie ihren Anteil. Auch das darf sich nicht wiederholen.

"Süddeutsche Zeitung" (München):

Das Bundesverfassungsgericht attestiert der damaligen Bundeskanzlerin allen Ernstes eine Verletzung der Chancengleichheit der Parteien, weil sie angesichts der desaströsen Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten im Februar 2020 das ausgesprochen hat, was jeder Demokrat und jede Demokratin dachte: 'Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.' (...)  Das Bundesverfassungsgericht sollte sich schleunigst von der Idee verabschieden, Minister und Kanzlerinnen in neutralisierte Beamte verwandeln zu wollen. Denn die künstliche Aufspaltung der politischen Persönlichkeit in Amtsträgerin und Parteipolitikerin dürfte gerade denjenigen nicht nachvollziehbar erscheinen, die dadurch vor einseitiger Einflussnahme geschützt werden sollen – den Wählerinnen und Wählern. Sie haben längst begriffen, dass auch der Regierungsbetrieb parteipolitisch geprägt ist. Und dass eine CDU-Kanzlerin die AfD politisch bekämpft."

"Ein wenig realitätsfern"

"Freie Presse" (Chemnitz):

Ein wenig realitätsfremd wirkt das Urteil schon: Parteipolitisch dürfen Angela Merkel und andere Minister austeilen, was das Zeug hält und die Verfassung aushält. Sobald sie aber als Bundeskanzlerin oder als Minister sprechen, sollen sie beamtenhafte Neutralität wahren. Genau darauf zielte das Minderheitenvotum der Richterin Astrid Wallrabenstein. Die Wähler und Wählerinnen haben längst begriffen, dass der Regierungsbetrieb auch parteipolitisch getrieben ist."

"Mitteldeutsche Zeitung" (Halle):

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Es ist nicht undemokratisch, wenn die Kanzlerin oder ein Minister die Bevölkerung aufrufen, nicht die AfD zu wählen oder sogar gegen die Partei zu demonstrieren. Das ist politische Führung und dafür ist die Regierung gewählt. Letztlich können Regierungsmitglieder vor der AfD warnen, so viel sie wollen - wenn sie betonen, dass sie als Parteipolitiker oder Privatperson sprechen. Es kann nicht sein, dass das Verfassungsgericht seine Rechtsprechung ändern muss, nur weil Regierungsmitglieder diese einfache Regel nicht einhalten können. Dies wäre weder für die Akzeptanz des Gerichts noch der Demokratie förderlich.

"Weser-Kurier" (Bremen):

Auch wenn Merkel jetzt postwendend ihren Respekt für die Karlsruher Entscheidung übermitteln ließ - es wäre eher verwunderlich gewesen, hätte sie nichts dazu gesagt, dass ihre CDU gemeinsame Sache mit einer AfD macht, die die Kanzlerin "jagen" wollte. Sie hat vielleicht politischen Stil vermissen lassen, keineswegs aber Haltung.

"Märkische Oderzeitung" (Frankfurt/Oder):

Eine Kanzlerin darf nichts Negatives über die politische Konkurrenz äußern, weil sie sich grundsätzlich neutral zu verhalten hat, urteilten die obersten Richter. In Südafrika, als die damalige Bundeskanzlerin Angelia Merkel die Wahl des thüringischen FDP-Ministerpräsidenten mit den Stimmen von CDU und AfD als "unverzeihlich" bezeichnete, trat sie als Kanzlerin auf und hätte schweigen müssen. Das Urteil ist richtig. Denn staatliche Instanzen müssen sich bei der Bewertung des Gegners zurückhalten. Sie müssen ihre Kritik eben anders verpacken - oder sie ausdrücklich als Abgeordnete äußern, wenn sie Immunitätsschutz genießen.

Angela Merkel: Verheerendes Symbol geschaffen

"Freies Wort" (Suhl):

Noch verheerender ist das Symbol, das die Kanzlerin geschaffen hat. Als Kemmerich tatsächlich am 8. Februar nach massivem Druck zurücktritt und am 4. März Bodo Ramelow (Linke) wieder Ministerpräsident einer von der CDU tolerierten Regierung sein darf, verstehen viele: In Deutschland kann die Bundeskanzlerin Wahlen rückgängig machen und frei entscheiden, wer Ministerpräsident eines Landes sein darf. Und sie darf das sogar - ganz nebenbei im Vorübergehen - von Afrika aus verlangen. Dieses Bild ist folgenschwer - gerade in Ostdeutschland, wo der Groll der Älteren noch tief sitzt über die Mächtigen in Berlin, die tatsächlich die Wahlen bestimmten.

"Die Glocke" (Oelde):

Merkels Äußerungen waren zweifellos ein Fehler. Möglicherweise wollte die damalige Regierungschefin auf internationaler Ebene ein klares Statement gegen Rechts setzen. (...) Innenpolitisch war Merkels Einlassung unnötig. Die Wahl Kemmerichs wurde von einer wachen Öffentlichkeit mit einem Orkan der Entrüstung beantwortet. Der FDP-Politiker kam nicht zur Ruhe, er trat von seinem Amt zurück.

"Neue Zürcher Zeitung" (Schweiz):

"Das Karlsruher Urteil (ist) ein Fingerzeig für einen erwachsenen Umgang mit der rechten Partei. Die Republik steht nicht vor dem Kollaps, wenn die AfD auf kommunaler Ebene punktuell mit anderen Parteien zusammenarbeitet. (...) Kein Staatsbürger und kein Parteipolitiker muss sich an das Neutralitätsgebot halten, gegen das Angela Merkel verstieß. Einer souveränen Republik aus mündigen Bürgern aber steht es gut zu Gesicht, Kritik und Ablehnung zu begründen und nicht lediglich der Antipathie die Zügel schießen zu lassen. Nur so gelingt, woran Merkel nicht nur bei ihrer Reise nach Südafrika scheiterte: die Stärkung der Demokratie."

DPA
dho

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