Angela Merkel Casino loyale

  • von Hans Peter Schütz
Ein Jahr ist Angela Merkel im Amt. Und das Volk urteilt streng über die Kanzlerin: Vier Fünftel sind unzufrieden mit der Arbeit ihrer Regierung. Ein Blick hinter die Kulissen der Macht - in ein System, in dem Treue wichtiger ist als Kompetenz.

Die Kanzlerin strahlt. "Geschafft." Ihre Augen funkeln. "Wir haben diskutiert, bis wir eine Lösung fanden." Stundenlang haben acht Menschen miteinander gerungen. Sie haben gestritten, gepokert, getrickst. Alles geprüft, Vor- und Nachteile etwaiger Beschlüsse gewogen. Und am Ende einen Weg gefunden. Als Team. Als Gemeinschaft. "Das ist gruppendynamisch eine unglaublich schöne Erfahrung." Die Kanzlerin im Wir-Gefühl, an diesem 16. Juli 2006 beim abendlichen Hintergrundgespräch auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg. Wie trunken von der Teamarbeit, mit der die Staatschefs persönlich eine Erklärung zum ausgebrochenen Libanon-Krieg erarbeiteten. "Wir haben das zusammen hinbekommen."

Ein Ereignis mit Seltenheitswert. Eines, das die Außenpolitikerin Merkel im Umgang mit Putin, Bush und Co. genießt - aber im Kanzleramt bis heute nicht zulässt und der CDU bei der Suche nach strategischer Ausrichtung verweigert.

Im CDU-Präsidium werden Beschlüsse abgenickt, aber nicht strategische Linien ausgehandelt. Im Kabinett wird vor allem der Koalitionsvertrag verwaltet. Weiter gehende Gedanken? Neue Ideen? Würden nur das aktuelle Projekt stören.

Seit genau einem Jahr führt Merkel die Große Koalition. Ihre Werte sind bescheiden. Die CDU ist eingebrochen. Gerade 29 Prozent würden ihr derzeit die Stimme geben. Mehr als vier Fünftel sind unzufrieden mit der Arbeit der Regierung. Verspielt ist der selbst gehätschelte Mythos, die CDU könne besser regieren.

Keine schöne Vorgabe für den bevorstehenden CDU-Parteitag, der am Montag beginnt. Die Zahl der Mitglieder, die der Partei den Rücken kehren, wächst. Zu besichtigen ist eine Kanzlerin, die lernen muss, dass Politik anders als Physik nicht gesetzmäßig abläuft. Auch Gefühle sind wichtig.

Merkels wichtigste Kriterien für die Aufstellung ihres engsten Teams waren bedingungslose Loyalität und Verschwiegenheit. Beim Einzug ins Kanzleramt galt, verstärkt durch ihr Misstrauen gegen alle vermeintlichen Rivalen, die Devise: kein Risiko bei der Auswahl der Mitstreiter. Ergebnis: Merkels engstes Umfeld ist nicht erstklassig, sondern braves Mittelmaß. Geprägt durch drei Probleme: Loyalität schlägt Kompetenz, vorhandene Kompetenz sitzt an der falschen Stelle, und sie wird dort nicht abgerufen, sondern im Zaum gehalten. Das erschwert es, die strategisch-inhaltliche Diskussion zu führen, ohne die Politik nicht auskommt.

Für den Politologen und Merkel-Biografen Gerd Langguth leidet die Arbeit der Kanzlerin am Musterschülerinnen-Syndrom. Immer wolle sie beweisen: Ich kenne alle Details des Problems. Ich pack das. Damit bin ich erfolgreich. "Sie macht das Geschäft der Arbeitsebene", so der ehemalige CDU-Abgeordnete.

Ein Problem vor allem für Fraktionschef Volker Kauder. Merkels wichtiger strategischer Verbündeter braucht eigene Kompetenzen, braucht eine Autorität, die er sich selbst erarbeitet. Auch mal gegen sie, vor allem aber im Kampf für die Sache. Hier fehlt ihm bis heute der Spielraum. Kauders Stellvertreter, CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer, wurde von Merkel erst nach langem Zögern und klaren Worten des Bayern ernst genommen, obwohl ohne ihn in München keine Berliner Entscheidung akzeptiert wird.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Auch die schärfsten Kritiker räumen ein, dass Merkel bienenfleißig telefoniert und simst, mit jedem redet, bei dem sie Kompetenz vermutet. Fachliche Expertise hier, sachliche Expertise dort. Merkel saugt auf wie ein Schwamm. Kann heftig mit Fachleuten diskutieren. Fragt mal bei Roland Koch nach, mal bei Christian Wulff. Unklar bleibt nur: Wie trifft sie ihre finale Entscheidung? Allein? Oder allein mit Beate Baumann, seit vielen Jahren ihre Büroleiterin?

Diese Baumann, stöhnen viele in Partei, Kanzleramt und Ministerien. Seit 15 Jahren arbeitet die 43-jährige Anglistin Merkel zu. Formal trägt sie den Titel Büroleiterin. In der Praxis kontrolliert sie wie auf allen früheren Stationen Merkels zur Macht den Zugang zur Chefin. Wen sie durchstellt, der darf sich wichtig fühlen. Wer gar ohne sie zu Merkel durchdringt, darf sich für superwichtig halten. Baumann weiß lange vor allen anderen, wie die Chefin tickt. Sie prägt die wichtigen Reden Merkels, entwirft oft das Gerüst. Den einen ist sie der personifizierte böse Geist der Vorsitzenden, die "Rasputina", den anderen ihr unentbehrliches Alter Ego. Bei ihr schreit Merkel auch mal ihren Zorn heraus, und Baumann darf zurückbrüllen, versichern Ohrenzeugen.

Unstrittig ist, dass die gebürtige Osnabrückerin sich glänzend auf die schnelle Analyse politischer Situationen versteht und mit Loyalisten der Kanzlerin virtuos Mehrheiten in den Gremien organisiert. Manche attestieren ihr "tückische Schläue", andere nennen sie die "zweitmächtigste Frau Deutschlands".

Vergleichbar nahe steht der Kanzlerin nur noch ihre langjährige Pressesprecherin Eva Christiansen. Sie hat Merkels Aufstieg in der Partei von Anfang an begleitet. Sie kann die Kanzlerin am besten erklären - und fehlt ihr wegen einer Babypause seit jenem Tag, als Merkel ins Kanzleramt einzog. Die Hinweise häufen sich, sie werde mit einer Drei-Tage-Woche zurückkehren. Nur sie und Baumann kennen Merkels Gedanken in Gänze.

Ein Defizit, das Kanzleramtsminister Thomas de Maizière bisher nicht ausgleichen konnte. Er ist der einzige Fachmann mit wirklicher Verwaltungserfahrung. Aber er kam nach Berlin, bar jeglichen Gefühls für den Politbetrieb der Hauptstadt. Der Mann ohne Hausmacht in Partei oder Fraktion versteht sich als preußisch-strenger Organisator der Regierungsmaschine. Aber es dauerte ein Jahr, bis ihm die misstrauische Kanzlerin Zugang zur Siebener-Runde der Parteichefs und Fraktionsvorsitzenden gewährte. Allerdings hat Merkels Amtschef einige Mängel selbst verursacht. Er hat das Störpotenzial der zehn CDU-Ministerpräsidenten im Allgemeinen und von Stoiber im Besonderen fahrlässig unterschätzt. Er träumte davon, Merkels Konzepte hinter geschlossenen Türen in Ruhe vorzubereiten. Eine mit dem Selbstverständnis der Koch-Wulff-Oettingers unvereinbare Erwartung. Im Zorn schimpft er schon mal über den "Hühnerhaufen". Dass es seine wichtigste Aufgabe wäre, Brücken zu den Mächtigen in Fraktion und Partei zu bauen, hat er erst in jüngster Zeit begriffen.

Die Spitze des Kanzleramts trifft sich täglich zur "Morgenlage". Dann sitzt Merkel mit ihren engsten Mitarbeitern zusammen: mit Baumann, mit de Mai-zière, mit CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla, genannt "General Sonnenschein", und mit einem der beiden Regierungssprecher, zumeist Unionsmann Ulrich Wilhelm. Außerdem bis zur Babypause Staatsministerin Hildegard Müller, dazu Merkels Planungschef und ihr Leiter der Zentralabteilung. Mittwochs vor dem Kabinett sind auch Kauder und sein Geschäftsführer Röttgen zugegen.

Hält man sich an Titel, hat Merkel hier wichtige Führungsleute beisammen. Trotzdem ist das Gremium kein zentraler Machtzirkel, nicht der "War Room" für die schwergewichtigen Fälle politischer Entscheidung. Hier geht's ums alltägliche operative Geschäft. Fatales Ergebnis: Die Tiefenschärfe der politischen Planung reicht nicht aus. Immer wieder muss nachgebessert werden. Leidvoll kann mancher berichten, dass Wünsche nach einer längeren Debatte hier mehrfach nüchtern-kühl gestoppt wurden.

Statt eines klaren Machtzentrums existiert ein vielfältiges Netz an Kontakten - so zu Peter Hintze, Peter Altmaier, Eckart von Klaeden. Alle irgendwie wichtig, keiner alleine entscheidend. Dazu kommen informelle Runden, Parteipräsidium, Vorstand, Ministerpräsidenten. Der Vorteil für Merkel: Nur sie kennt alle Stränge. Der Nachteil: Es gibt keine unumstößliche Identifikation aller für die eine Sache. Zu viel läuft auf bilateralen Schienen.

So ist Generalsekretär Pofalla mit Merkels Amtsantritt zum zweitwichtigsten Berater aufgestiegen. Mitarbeiter der CDU-Zentrale spötteln, selbst im Handy-Zeitalter besitze er eine Standleitung zur Chefin. Wenn Merkel einen Mann in ihre Gedankenwelt einlässt, ist es der 47-Jährige aus Nordrhein-Westfalen.

Beide zogen 1990 in den Bundestag ein, lernten sich früh kennen. Sie, die junge, neugierige Frau mit Ostgeschichte; er, das Arbeiterkind aus dem Westen, Selfmademan mit Karriere auf dem zweiten Bildungsweg. Merkel, damals Frauenministerin, holte sich Pofalla als politischen Partner. Er half ihr bei allen Gesetzen. Das Verhältnis ist seither klar: Sie marschiert voran, er hilft bei allem.

Nicht anders ist das in diesen Herbsttagen. Pofalla in seinem Büro - da wird geschmeidig die Kritik aufgenommen, um dann bloß nicht kleinbeizugeben. Probleme? "Da muss man doch gar nicht drum herumreden." Konsequenzen? "Die Kanzlerin hat doch Durchsetzungswillen bewiesen." Erschöpft sieht er aus, aber nicht zu müde, um wieder und wieder die Zwänge der Koalition hervorzuheben. Wer glaube, dass er nach schlechten Umfragen Angst bekomme, werde sich wundern. "Was wir machen, ist alternativlos."

So groß seine Loyalität, so groß seine Probleme, die Rolle des Generalsekretärs auszufüllen. Solange die Kanzlerin ziemlich konturlos bleibt, will die CDU wenigstens von ihrem General Orientierung. Doch die hat er kaum geliefert. Ihm fehlt ein klares Profil, das ausstrahlen könnte.

Außerdem will Pofalla die Partei nicht stabilisieren, er will sie reformieren. Nur die Linie dafür hat er nicht gefunden. Seine Initiative für ein Familiensplitting - missverständlich, irritierend. Sein Versuch, Jürgen Rüttgers zu bremsen - ging daneben. Sein Anwurf gegen einen gewalttätigen Islam - zu platt, um es ihm abzunehmen. So schwankt er zwischen Koalitionssekretär und Parteiaggressor.

Auf schwankendem Boden bewegt sich auch Ulrich Wilhelm. Der Regierungssprecher könnte für Merkels Politik klare Überschriften liefern. Könnte. Bisher hat der 45-Jährige das nicht geschafft. Auch, weil er dafür keine Erlaubnis erhalten hat. Er referiert, was Merkel ihm sagt.

Wilhelm soll für die ganze Regierung sprechen. Kein Feixen Richtung SPD, kein scharfes Wort über den Koalitionspartner. Das klingt plausibel. Aber es lässt ihn im Hin und Her der Koalition fast ertrinken. Zumal sein Stellvertreter Thomas Steg exzellent auf zwei Hochzeiten tanzt, mal als Merkels Sprecher, mal als SPD-Strippenzieher.

Wilhelm ist als Fan der Reformerin Merkel an die Spree gezogen. Deshalb leidet er, wenn wenig vorangeht. Merkel kennt ihn aus der Zeit, als Stoiber Kanzlerkandidat war - und Wilhelm dessen engster Berater. Wilhelm gehörte bis 2003 zum engsten Zirkel des Bayern. Dass Stoiber damals das Image des gewissenhaften Reformers anhaftete, hatte er entscheidend Wilhelm zu verdanken. Zu der Zeit forderte Stoiber von seiner Mannschaft Diskussionen, ließ gemeinsam in langen Sitzungen alle Eventualitäten prüfen. Erzählt Wilhelm davon, dann begeistert.

Gemessen daran muss er heute etwas vermissen. Klaglos, versteht sich. Der Mann ist Beamter. Aber einer, dessen Rolle sich wandelt. Je unzufriedener die eigenen Truppen sind, desto häufiger klingelt sein Telefon. Für viele ist er der Kummerkasten. Wilhelm hat das Ohr stärker an der Basis als alle anderen in der Morgenlage. Ein Pfund, das Merkel und Baumann erst allmählich erkennen. Sein Wort gewinnt an Bedeutung.

Eine Qualität, die Merkels Mitstreiterin Hildegard Müller im Verhältnis zu den Länderchefs nicht erreichen konnte. Bis zu ihrer Babypause war die Staatsministerin zuständig für die Bund-Länder-Koordinierung. Die 39-Jährige, bis 2002 erste Frau an der Spitze der Jungen Union, hatte geschickt mitgeholfen, Merkels Macht in der Parteispitze festzuzurren.

Logisch, dass Merkel sie in ihrer Nähe haben wollte. Nicht logisch, dass sie Müller eine Aufgabe übertrug, die sie nicht erfüllen konnte. Ausgerechnet an der Schnittstelle zu den Ministerpräsidenten, dem Gefahrenzentrum für Merkel. Müller ist klug, ist Merkel in ihrer kühlen Sachlichkeit ähnlich. Dennoch hätte Merkel wissen müssen, dass die Aufsteigerin an ihrer Seite für die Länderchefs ein rotes Tuch bleiben würde. Stolz und Trotz siegten über die Einsicht.

Dabei gäbe es einen kompetenten CDU-Mann, der auf neue Aufgaben wartet. Norbert Röttgen ist als Einziger im Umfeld der Kanzlerin nicht aufgerückt, sondern stecken geblieben. 2005 Mitautor des Wahlprogramms und faktisch Merkels Kabinettschef, ist er formal Fraktionsgeschäftsführer geblieben. Für einen 41-Jährigen muss das kein Problem sein, solange die Kanzlerin Teamgeist herstellt. Frustrierend ist, wenn sie es vermeidet.

Auch bei der Berufung der schwarzen Minister war Nähe zur Kanzlerin ein wichtigeres Kriterium als ausgewiesene Kompetenz am richtigen Platz. Wolfgang Schäuble durfte nicht dahin, wo er am besten gewesen wäre, an die Spitze der CDU/CSU-Fraktion. Zu mächtig dort, befand Merkel, und band ihn als Innenminister im Kabinett ein. Kauder durfte nicht dorthin, wo er am nützlichsten gewesen wäre, ins Kanzleramt, sondern musste in die Fraktion. Annette Schavan erntete als Lohn für ihre Loyalität das Forschungsministerium, Maria Böhmer wurde Staatsministerin, weil die Frauenunion Merkel unterstützt hatte. Weshalb hat sich Merkel nach Stoibers Flucht nicht überwunden, doch noch Friedrich Merz als Wirtschaftsminister zu holen? Michel Glos hätte oberster Verteidiger, Franz Josef Jung Agrarminister werden können.

Selbst unter jenen, die es ins Kabinett geschafft haben, wird Merkels System mit Sorge betrachtet. Sie erzählen wie ihre SPD-Kollegen vom angenehmen Gesprächsklima unter Merkel. Aber sie warnen, dass die SPD "wahnsinnig gut abgestimmt" auftrete und eine "exzellente Rollenverteilung" entwickelt habe. "Wir haben keine gemeinsame Strategie und keine geschlossene Mannschaft", klagt ein Minister, "so können wir denen wenig entgegensetzen."

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