Drehen wir einmal den Kalender der Union zurück. Stellen wir eine entscheidende Weiche anders. Und die Gedankenreise führt uns zum Ursprung der konservativen Krise. Also: Frühjahr 2004. Nehmen wir an, nicht Horst Köhler, sondern Edmund Stoiber wäre zum Bundespräsidenten gewählt worden. Vielleicht nicht im ersten Wahlgang, weil ihm zunächst einige Stimmen aus der FDP fehlen, aber immerhin. Das Votum klärt früh die Verhältnisse. Stoibers Wahl ist nicht nur Wendesignal, sie betoniert auch die Kanzlerkandidatur Angela Merkels, erhebt die protestantische Frau aus dem Osten zur unbestrittenen Autorität der Union.
Und erspart ihr all das, was sie im realen Leben ins Desaster geführt hat. Denn Eintracht zwischen CDU und CSU ist fortan Stoibers Grundgesetz. Keine Silbe verliert er über Leichtmatrosen, die Schröder und Fischer das Wasser nicht reichen könnten. Ohne Stoibers Ansporn und Rückhalt läuft Horst Seehofer nicht gegen Merkels Gesundheitsprämie Amok. Ohne diesen Amoklauf ist die Verstümmelung des CDU-Konzepts durch einen Kompromiss mit der CSU unnötig - denn Details der Finanzierung will die Union erst nach ihrem Wahlsieg klären. Ohne diesen Kompromiss bleibt Friedrich Merzens Steuerreformplan unangetastet, und sein Schöpfer muss nicht fürchten, dass ihn ein Superminister Stoiber aus dem Kabinett Merkel drängt - er kämpft weiter in der ersten Reihe für einen Wahlsieg der Union. Und schließlich: Ohne Stoibers Bockbeinigkeit, ohne Seehofers Amoklauf, ohne Merzens Resignation fallen die Herzöge der CDU nicht ab von ihrer Vorsitzenden, verirren sich Rüttgers & Co. nicht in Illoyalität, baut sich Christian Wulff nicht überlebensgroß als Ersatzkandidat auf. Schöne, heile schwarze Welt.
Nun ist hinlänglich und verlässlich bekannt, dass Stoiber gar nicht Präsident werden wollte. Es geht auch nicht darum, dass Köhler etwa die schlechtere Wahl gewesen sein könnte. Im Gegenteil. Vielmehr erweisen sich die Umstände seiner Nominierung als Weichenstellung ins Unglück der Union. Weil Stoiber, der bis zuletzt an Wolfgang Schäuble festhielt, von der überlegen und einsam taktierenden CDU-Vorsitzenden ausgespielt wurde wie ein heuriger Hase. Weil Köhler ihr (und Guido Westerwelles) Präsident wurde, nicht aber seiner. Weil er diese bittere Stunde der Niederlage nicht vergessen konnte. Und weil sein von Revanchelust befeuerter Widerstand gegen Merkels Kopfprämie die vordem zugkräftigen Projekte der Union - Systemwechsel in der Krankenversicherung und Bierdeckelreform bei den Steuern - verschlissen hat. So lässt die CSU, so lässt Edmund Stoiber nicht mit sich umspringen, lautete die Botschaft aus München. Vor der großen Kränkung hatte Stoiber die Kopfprämie zwar kritisiert - danach rannte er aber furios dagegen an und bestand auf Satisfaktion durch Revision.
Das hat Angela Merkels größte Schwäche freigelegt: Sie siegt sich nicht nachhaltig zum Sieg, sie siegt sich im Handstreich in die Krise. Wird als nicht teamfähig beschrieben. Isoliert. Baut keine Spannung mehr auf. Und die personell überlegen erscheinende Union steht plötzlich als konfuser Haufen da, der es nicht besser, sondern schlechter zu machen verspricht als die Regierung. Ohne Elan, ohne Selbstvertrauen, ohne Corpsgeist, ohne Heilsversprechen.
Kurioserweise ist der Mann, der Kanzler nicht werden konnte und Präsident nicht werden wollte, nun - nachdem er all das besorgt hat - der einzige der Unionsgranden, der an einem Wahlsieg Merkels wirklich interessiert ist. Weil er nur noch einen Traum träumen kann: mächtigster, altväterlich wegweisender Minister im Kabinett Merkel. Kanzlerkandidat - das ist das Einzige, was die CDU zuverlässig eint - wird er nicht mehr. Mag kommen, was will.
Kurioserweise ist Stoiber heute der einzige der Unionsgranden, der an einem Wahlsieg Merkels 2006 wirklich Interesse hat
Den eigenbrötlerischen Ministerpräsidenten der CDU aber - allen voran Christian Wulff, Roland Koch und Peter Müller - ist Merkels Sieg in Berlin in Wahrheit herzlich egal. Sie wollen Kanzler werden, irgendwann, aber nicht morgen Minister unter Merkel. Jeder von ihnen ist durch eigenen Wahlerfolg ins Amt gekommen; jeder regiert sein Land gern und erfolgreich gegen Rot-Grün im Bund; jeder wäre bedroht durch eine hart sanierende Unionsregierung in Berlin. Ihre zähe Wurstigkeit, ihre lahmen Treueschwüre, ihre tückischen Ratschläge sind ständige Dementis der eigenen Krisenbeschreibung Deutschlands. Die satte Länderpartei der Männer kämpft gegen die ausgehungerte Bundespartei Merkels. Die Wähler sind nicht blöd, sie spüren das. Wer nicht selbst brennt, kann auch andere nicht entzünden.
Verliert die CDU die Wahlen in Kiel und Düsseldorf, wird es turbulent in der Union. Doch wenig lässt vermuten, dass sich dann einer der Herzöge herablässt, das notleidende Reich zu retten. Eher werden sie Merkel erst recht zur Kandidatin ausrufen - um sie 2006 scheitern zu sehen. Und dann zu erledigen.