Einen Tag vor der Abstimmung im Bundestag über den Kompromiss zu vorgezogenen Steuersenkungen und Arbeitsmarktreformen war offen, ob die rot-grüne Koalition die von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) geforderte eigene Mehrheit zu Stande bringt. Auch im Bundesrat werden am Freitag nicht alle Länder der im Vermittlungsausschuss erzielten Einigungsformel zustimmen.
Bis zu fünf Abweichler wären hinnehmbar
Schröder selbst ließ am Donnerstag offen, wie wichtig ihm eine eigene Mehrheit sei. Auf eine entsprechende Frage antwortete er nach einem Treffen mit den Länderregierungschefs: "Diese Frage hat in der Konferenz der Ministerpräsidenten keine Rolle gespielt." Die SPD-Abgeordnete Sigrid Skarpelis-Sperk legte sich in einem Reuters-Gespräch auf ein Nein zur Zumutbarkeit von Stellenangeboten für Langzeitarbeitslose fest. Auch der stellvertretende Grünen-Fraktionschef Hans-Christian Ströbele sagte, dieser Punkt sei für ihn nicht zustimmungsfähig. Dagegen äußerte sich der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Wilhelm Schmidt, zuversichtlich, dass die Koalition eine eigene Mehrheit zu Stande bringen wird. Bis zu fünf Abweichler wären hinnehmbar.
Im Bundesrat, der den Weg zur Umsetzung der Reformen endgültig freimachen soll, wird Mecklenburg-Vorpommern dem Kompromiss nicht zustimmen. Dagegen signalisierten die CDU-regierten Länder Hessen, Niedersachsen und Sachsen trotz Kritik am Verhalten der Koalition im Vermittlungsausschuss ihre Zustimmung.
Zehn Abgeordnete hatten ein Nein angekündigt
Bis Donnerstag hatten rund zehn Abgeordnete von SPD und Grünen angekündigt, mit Nein zu stimmen oder das zu erwägen. In Kreisen der Grünenfraktion wurde mit mehr oder weniger fünf ablehnenden Stimmen gerechnet. Wie viele Abweichler sich die Koalition im Bundestag leisten kann, ohne die eigene Mehrheit zu gefährden, hängt maßgeblich von der Zahl der Abstimmungsteilnehmer ab. Die eigene Mehrheit wäre erreicht, wenn die Koalition mehr Ja-Stimmen als die Opposition insgesamt schafft. Enthaltungen werden nicht gewertet. Die Koalition hat 306, die Opposition 297 Stimmen im Bundestag. Der Kanzler hatte die eigene Mehrheit bei den wichtigen Reformvorhaben gefordert.
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler unterstrich die Bedeutung einer eigenen Mehrheit: "Wir regieren, und wir wollen zeigen, dass wir das, was wir machen, selber vertreten." Alle SPD-Abgeordneten würden bei der Sitzung am Freitag anwesend sein. Unklar war nach Angaben aus der Fraktion zunächst, ob in den Fraktionssitzungen am Donnerstag oder Freitag eine Probeabstimmung stattfinden solle. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Schmidt sagte dem NDR zur Frage eigener Koalitionsmehrheiten: "Das Ergebnis ist offen, aber ich bin ziemlich sicher, das wir es schaffen." Sein Fraktionskollege Klaus Brandner sagte, er habe wenig Verständnis, wenn Kollegen wegen Kritik an nicht so gravierenden Facetten des Kompromisses ihre Zustimmung verweigerten.
Grünen-Fraktionsvorsitzende Christa Sager wandte sich dagegen, bei jeder einzelnen der voraussichtlich 15 Abstimmungen eine eigene rot-grüne Mehrheit einzufordern. Sie finde es unangemessen, jedes Mal die Hürde so hoch zu legen, da es um All-Parteien-Kompromisse gehe.

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Skarpelis-Sperk bleibt hart
Die SPD-Abgeordnete Skarpelis-Sperk will wegen ihrer Kritik an der Zumutbarkeitsregelung die so genannte Hartz IV-Reform ablehnen, dem Kompromiss zur Steuer- und zur Gemeindefinanzreform aber zustimmen. Ströbele sagte dem NDR: "Bei der Gefahr des Lohndumpings mache ich nicht mit."
Koch fordert Rücktritt Schröders im Falle keiner eigenen Mehrheit
Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) sagte dem NDR: "Sollte der Bundeskanzler bei der Abstimmung keine eigene Mehrheit bekommen, wäre das ein Ausdruck seiner Führungsschwäche." Wulffs hessischer Kollege Roland Koch (CDU) hatte für diesen Fall bereits den Rücktritt des Kanzlers gefordert. Neben dem rot-rot regierten Mecklenburg-Vorpommern erwägt nach Informationen des Berliner "Tagesspiegel" auch mindestens ein unionsgeführtes Land ein Nein zum Steuer-Kompromiss.
CDU-Chefin Merkel sagte dem Nachrichtensender N24: "Ich gehe davon aus, dass der Bundeskanzler in allen Abstimmungen seine Kanzlermehrheit zusammenbekommt".
Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Wilhelm Schmidt, äußerte sich zwar auch zuversichtlich, nannte das Erreichen einer eigenen Mehrheit aber "nicht besonders wichtig". Der Maßstab sei nämlich, "dass wir ein Reformpaket herbeigeführt haben, das ohne gleichen ist in den letzten Jahrzehnten", sagte Schmidt im Norddeutschen Rundfunk.
Einfache Mehrheit reicht aus
Am Nachmittag wollten die Fraktionen von SPD und Grünen über den Reformkompromiss beraten. Insgesamt geht es um zwölf Gesetze. In den letzten Tagen hatten bereits mehrere Koalitionsabgeordnete eine Ablehnung der verschärften Zumutbarkeitsregelung angekündigt. Es wird erwartet, dass über diesen und weitere Punkte am Freitag in namentlicher Abstimmung entschieden wird. Dabei reicht die einfache Mehrheit aus. Die Koalition verfügt mit 306 zu 297 Stimmen nur über eine knappe Mehrheit im Bundestag.
Auf Länderseite gab die SPD/PDS-Regierung von Mecklenburg-Vorpommern zur erkennen, dass sie dem Reformkompromiss nicht zustimmen werde. Arbeitsminister Helmut Holter (PDS) sagte er "Chemnitzer Freien Presse", seine Partei könne die Vereinbarungen nicht mittragen. Der Koalitionsvertrag sehe für solche Fälle Enthaltung in der Länderkammer vor.