Hinter Eglingen kommt nur noch Bayern. In diesem östlichsten Zipfel der Schwäbischen Alb wählten bei der vergangenen Bundestagswahl 63 Prozent CDU. Eglingen hat 600 Einwohner, keinen Handyempfang, dafür eine nagelneue Grillhütte und eine Blaskapelle mit 40 Uniformierten, die vor der Hütte Stellung beziehen. Bratwürste und Steaks brutzeln auf dem Grill, als der CDU-Bundestagsabgeordnete Georg Brunnhuber um 18 Uhr aus seinem dunkelgrünen BMW steigt.
Brunnhuber trägt eine Trachtenjacke, lässt sich von allen Schorsch nennen und duzt jeden. An seinen Tisch setzen sich die Honoratioren: der Ortsvorsteher, der Landtagsabgeordnete, der CDU-Kreisgeschäftsführer und der Direktor der Volksbank. An den umliegenden Biertischen trinken die rund 30 Gäste Nattheimer Spezial, die Flasche für einen Euro. Vor der ersten Rede schmettern alle ein Volkslied: "Wohl ist die Welt so groß und weit". Im Hintergrund stehen die Felder voll Sommergerste und Mais.
"Wenn alle so wählen würden wie wir in Eglingen", beginnt Brunnhuber seine Rede, "dann gäb's in Deutschland nicht so viele Probleme." Applaus! Dann skizziert der Schorsch das am Abgrund stehende Deutschland, spricht über die "Schicksalswahl" und über "die Angela" - die duzt er auch.
An den Liberalismus herangerobbt
Brunnhubers Wahlkreis 271 (Aalen/Heidenheim) ist einer, von dem manche spotten, dass die CDU hier einen Besenstil aufstellen könnte, auch der würde gewählt. In keinem Bundesland holte die CDU bei der Wahl 2002 so viele Stimmen wie in Baden-Württemberg. Der Schorsch schaffte in seinem Wahlkreis 49 Prozent. Doch 2002 sah die Welt noch ein bisschen anders aus: Es gab keine fünf Millionen Arbeitslosen und keine EU-Osterweiterung, und die CDU war noch mehr auf Konsens und sozialen Ausgleich bedacht.
Das hat sich geändert. Unter Merkel robbte die Union, wie der Göttinger Parteienforscher Franz Walter bemerkt, an den Liberalismus heran. "Die alte CDU wollte nie radikalreformerisch sein", sagt Walter, "sie lebte davon, Ängste ernst zu nehmen und Sicherheit zu vermitteln. Katholiken und Konservative glauben daran, dass die Menschen Ruhe und Wohlfahrt wollen." Die neue CDU sei dagegen eine Reformpartei. Im Zentrum ihres Vokabulars stünden heute das "Individuum", "Freiheit" und "Eigenverantwortung".
Kirchhof ist kaum einem bekannt
Wie passt dieser Wirtschaftston aber zum Kernklientel der CDU, zur ländlichen, katholischen Basis in Süddeutschland? Bisher haben die Menschen dort CDU gewählt, weil sie Ruhe und Stabilität wollten. In der Eglinger Grillhütte ist vom neuen Kurs der CDU wenig zu hören. Mit keinem Wort erwähnt Brunnhuber die geplante Kopfpauschale im Gesundheitswesen, die Absenkung des Kündigungsschutzes, die Aufweichung der Tarifverträge. Nur die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer verteidigt er kurz. Auch der Steuerprofessor Paul Kirchhof, den Angela Merkel vor zwei Wochen als Mitglied ihres "Kompetenzteams" aus dem Hut zauberte, ist kein Thema. "Die meisten hatten den Namen Kirchhof noch nie gehört", sagt Brunnhuber. "Jetzt, nachdem er von den Medien so unglaublich lanciert wurde, sagen die Leute, es ist gut, dass ihr jemand habt, der weiter denkt."
Der Basis in der Grillhütte kann man mit Kirchhof aber nicht kommen. Dort drischt der Schorsch lieber wie früher auf die Sozis ein, auf Kanzler Schröder, den er einen "Genossen der Bosse" nennt, und auf Eichel. "Der hat der Großindustrie 73 Milliarden Euro geschenkt", empört sich Brunnhuber. "Und wer zahlt das?" Pause. Er blickt auf seine Zuhörer: "Wir zahlen das!" Will die CDU volkstümlich sein, redet sie immer noch wie die Linkspartei.
Brunnhuber setzt sich, die Kapelle schmettert ein Lied. Danach wird diskutiert. Es meldet sich Franz Wörrle. Er ist 48 Jahre alt, CDU-Mitglied und beschäftigt in seinem Reinigungsunternehmen 300 Leute, die meisten davon Minijobber. Der Franz will wissen, ob die CDU Erleichterungen plant. Ob die Unternehmer zum Beispiel die Sozialversicherungsbeiträge erst später im Monat überweisen müssen. Brunnhuber will ihm da keine großen Hoffnungen machen. Wer Wörrle hinterher fragt, ob er nicht selbst von der rotgrünen Regierung profitiert, von den neuen Minijobs und der gesenkten Einkommensteuer, bekommt ein "Ach was!" zur Antwort. "Das Entscheidende ist doch, ob die Wirtschaft läuft, dass ich Aufträge hab." Und davon habe er zu wenig.
Nach dem Franz melden sich noch andere. Sie fordern Brunnhuber auf, sich für die Entfernungspauschale stark zu machen. Und für die Eigenheimzulage. Und für die Steuerfreiheit von Nachtzuschlägen - alles Dinge, die Frau Merkel und Professor Kirchhof abschaffen oder zumindest radikal beschneiden wollen. Brunnhuber verspricht seinen Anhängern nichts Konkretes. Die CDU-Basis in Eglingen würde gern ihre alte Welt verteidigen, aber die Leute ahnen, dass die goldenen Zeiten vorbei sind.
Am nächsten Morgen erscheint Brunnhuber im hellen Sommeranzug mit braunen Wildlederschuhen. Zusammen mit dem CDU-Ortsverein Röhlingen hat er sich bei der Fensterfabrik Lingel angemeldet. Lingels 70 Mitarbeiter stellen vor allem PVC-Fenster her. Vater und Sohn heißen beide Karl und haben im Innenhof für den Besuch von der CDU ein weißes Zelt aufgebaut. Diesmal gibt's Wasseralfinger Löwenbräu, dazu reicht Frau Lingel Butterbrezeln, Karl junior erklärt mit Hilfe eines Projektors, wie die Geschäfte laufen. Lingel jammert, dass die Baubranche darnieder liege. Aber er habe einen Ableger in Indien gegründet und verkaufe nun Fenster in der Nähe von Delhi. Auch in Röhlingen weiß man sich zu globalisieren.
Bewunderung für Schröder
Lingel junior hofft auf eine CDU-FDP-Koalition. "Dann geben die Leute wieder Geld aus." Allerdings beeindrucke ihn bei Schröder auch manches, etwa dass er Nein zum Irakkrieg gesagt und sich bei Hartz IV durchgesetzt habe. Hartz IV? Lingel senior schaut den Sohn schief an: "Aber Karl, denk mal nach! Ist es gerecht, dass jemand, der 35 Jahre geschafft hat und arbeitslos wird, nach einem Jahr nur noch Sozialhilfe bekommt?"
Brunnhuber drängt zum Aufbruch. Er muss nach Rainau-Buch, wo er gemeinsam mit dem CDU-Agrarausschuss die Firma Stetter besucht. Bei der Bundestagswahl 2002 holte Brunnhuber in Rainau 61 Prozent. Vater und Sohn Stetter leiten die Firma und sind Mitglieder der CDU. Bevor für die 20 Besucher des CDU-Agrarausschusses Aalener Löwenbräu ausgeschenkt wird, steigt Senior Stetter auf das Podest eines Gabelstaplers, um eine Rede zu halten - über die Kalkverarbeitung von der Antike bis zur Gegenwart.
Hassfigur Trittin
Stetter macht sein Geschäft mit Bodenverfestigung, dazu hat er spezielle Maschinen entwickelt. Vor kurzem nahm er einen 400.000-Euro-Auftrag in Ungarn an, wo er auf einem 30 Kilometer langen Autobahnstück seine Maschinen einsetzt. Wie die Bauern hasst auch Stetter die grüne Ministerin Künast: "Die hat mit ihrem Öko versucht, die Landwirte in gute und schlechte zu spalten." Karl Berroth, der Vorsitzende des Agrarausschusses, applaudiert. Einen Grünen verachtet Berroth besonders: Jürgen Trittin. "Wissen Sie eigentlich, dass der Kommunist ist?" Berroth weiß es genau: "Der Trittin hat aus seinem Briefpapier das Wort 'deutsch' gestrichen. Da steht nur noch 'Abgeordneter des Bundestags', nicht mehr 'des deutschen Bundestags'. Diese Leute gehören nicht zu unserer Gesellschaft."
Oskar Wiedemann, 63, trinkt sein Bier am Tisch hinter Berroth. Ihn regen die Grünen nicht so auf. Sein eigener Sohn wählt sie, "mutmaßlich". Wiedemann selbst ist CDU-Mitglied. Er weiß, dass es in Deutschland nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher, sagt er. Als junger Mann habe er 55 Stunden pro Woche gearbeitet. "Heute arbeiten die Leute 35 Stunden. Das geht nicht mehr, weil die Firmen im Ausland auch gut sind." Selbstverständlich habe er nach der geplanten Mehrwertsteuer-Erhöhung weniger in der Tasche. Aber das störe ihn nicht. "Schon die letzten drei Jahren haben die Rentner schleichend weniger bekommen. Jeder muss eben ein bisschen verzichten, auch die Rentner." Dem Renter gefällt nicht alles an der neuen CDU. "Mich stört zum Beispiel, dass sie heute oft nur das Unternehmerische sieht." Die unteren Schichten, die Arbeiter, die nehme sie doch gar nicht mehr mit. "Die CDU-Politiker gehen so hochnäsig mit den Gewerkschaften um, das müsste nicht sein."
Dass die CDU nicht weiß, wie sie sich gegenüber den "unteren Schichten" verhalten soll, hält Parteienforscher Franz Walter für einen "riesigen strategischen Fehler". Er hat die Wahlen seit 2002 analysiert und fand heraus, dass die CDU zuletzt vor allem in der Unterschicht zugelegt hat. "Bei den Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und NRW hat die CDU 15 bis 20 Prozent Stimmen bei jungen, schlecht ausgebildeten Männern gewonnen. Das sind Wähler, die noch nie auf einer CDU-Veranstaltung waren, die nichts zu tun haben mit den Lebenswelten der klassischen CDU-Wähler: dem Landwirt, Autohändler oder Apotheker in ländlichen Gegenden."
Walter nennt die neue Wählergruppe die "Dosenbier-Nachmittags-Talkshow-Fraktion". Die CDU habe sich die nie um diese neuen Wähler gekümmert, ihnen nie "ein Angebot" gemacht. In den vergangenen Monaten sei deshalb vor allem diese Gruppe zur Linkspartei abgewandert. Nur so lasse sich auch der Stimmenverlust der CDU in den Umfragen von 48 Prozent im Mai auf 42 Prozent im August erklären. "Insofern bedroht die Linkspartei gar nicht mal so sehr die SPD wie die CDU."
"Schaumschläger Stoiber"
Brunnhuber will am Samstagvormittag auch junge Wähler ansprechen. Deshalb lädt er in die Szenekneipe "Alter Hobel" in der Fußgängerzone in Aalen ein. Es kommen vor allem Mitglieder der Jungen Union (JU). Nach Dosenbier und Nachmittags-TV sieht keiner aus. Im Gegensatz zum alten Anhang der CDU ist der Nachwuchs von der Reformpolitik Angela Merkels und Paul Kirchhofs sehr überzeugt.
Michael Galbas, 20, ist Vize-Chef der örtlichen JU, ist für die Abschaffung der Eigenheimzulage, der Steuervorteile für Schichtarbeit und anderes mehr. "Wir werden künftig mit Einschränkungen leben müssen", sagt Galbas. "Das Problem ist doch, dass die Deutschen keine niedrige Arbeit mehr machen wollen." Seine Lieblingspolitiker? "Angela Merkel, weil sie besser ist als der Schaumschläger Stoiber, dann Friedrich Merz, weil er eine radikale Steuerreform vorgeschlagen hat, und Günther Beckstein, weil er gewalttätige Ausländer radikal abschiebt."
Am Samstagnachmittag besichtigt Brunnhuber mit der CDU-Frauenunion die Forellenzucht Fischböck in Oberkochen. Diesmal hält er keine Rede, er klopft nur mal dem, mal jenem auf die Schulter, hält Schwätzchen und hofft, dass die Leute zu Hause erzählen, was für ein volkstümlicher Politiker er sei. Während die CDU-Frauen die Fische in den Bassins begucken, steht Brunnhuber abseits. Er sagt, dass es doch erstaunlich gut für seine Partei laufe. Zumindest auf der Ostalb seien SPD und Grüne gar nicht mehr präsent. "Die machen überhaupt keinen Wahlkampf mehr." Selbst das geplante TV-Duell zwischen Schröder und Merkel sieht er mittlerweile locker: "Der Effekt, den die Frau Merkel da erzielen wird, wird größer sein als der von Schröder. Jeder wartet doch darauf, dass sie einen Fehler macht, dass sie einbricht. Aber sie spricht jetzt sehr routiniert in den Talkshows, und am Ende wird der Eindruck sein: Die kann's auch."
Georg Brunnhuber sagt: "Eigentlich kann nichts mehr schief gehen."