Herr Sommer, immer, wenn man Sie im Fernsehen sieht, haben Sie diesen Blick eines traurigen Dackels.
Ja? Die Zeiten sind ernst, wir Gewerkschafter haben wenig zu lachen. Neulich sagte der Kabarettist Bruno Jonas im Fernsehen, es war im "Scheibenwischer": "Mensch, der Michael Sommer kann lachen!" Alle im Saal lachten - über mich.
Ich sag's doch: Sie sind ein armer Hund.
Ich sehe mich nicht so, nicht als eine traurige, faltige Gestalt; ich mach auch ganz gern mal hinterfotzige Anmerkungen...
Ja?
Ja! Ich bin doch Berliner!
Sie sind der DGB-Vorsitzende.
Ich muss in diesem Amt eigentlich jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber genau das will ich nicht. Ich will echt und authentisch sein, ich will...
Sie mögen wollen, aber Sie können doch nie sagen, was Sie wirklich denken: Sie müssen Rücksicht nehmen auf die mächtigen Chefs der Einzelgewerkschaften: Bsirske, Peters, Schmoldt.
Ich muss vermitteln können, das stimmt, aufpassen, dass nicht der Spaltpilz in der Gewerkschaft hochkommt. Die Zeiten sind ernst, die Gewerkschaften, alles Soziale ist unter Attacke.
Neulich hat Kanzler Schröder Sie und den IG-Metall-Chef Peters regelrecht zusammengestaucht: "Wer vertritt die Arbeitnehmerinteressen?", brüllte er: "Ich!" Und ist aus der Sitzung einfach rausgerannt!
Ganz so war es nicht! Aber ja, so ist er halt. Er versucht, mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, Gunst und Ehre zu verteilen, Menschen unter Druck zu setzen. Aber ich kann mit ihm schon sehr persönliche Gespräche führen.
Ja? Aber er kann auch ganz schön zynisch sein. Neulich, als Sie ihn auf einem Staatsbesuch nach Afrika begleiteten, wollte er Sie dort zurücklassen.
Das war so eine Schröder-Nummer auf dem Flughafen in Ghana. Das war kein Frotzeln. Er wollte den anderen zeigen: Den schneiden wir jetzt! Das ist verletzend. Aber allen Angriffen zum Trotz denke ich: Ich habe das schönste Amt, das Gewerkschaften zu vergeben haben!
Vielleicht gehen Sie ja als der Gewerkschaftsführer in die Geschichte ein, der die Arbeiterbewegung in die Bedeutungslosigkeit geführt hat - Seit' an Seit' mit der SPD. Mitglieder rennen Ihnen weg, und...
Lassen Sie doch bitte die SPD weg, die muss ihre Probleme selber lösen. Man sollte erst kurz vor seinem Tod drüber nachdenken, womit man in die Geschichte eingeht. Ich habe noch nicht die Absicht, zu sterben. Ich bin SPD-Mitglied, aber ich bin zuallererst Gewerkschafter, und ich will diesen Laden zusammenhalten.
Da haben Sie viel zu tun. Ihre Mitglieder bekämpfen einander lustvoll: Für IG-Chemie-Chef Hubertus Schmoldt sind die Arbeitsmarktreformen "notwendig". Steffen Lemme, DGB-Chef von Erfurt, nennt sie "soziale Schweinereien", gegen die man auf die Straße, zu den Montagsdemos, muss.
Unsere Leute vor Ort wissen schon, wie wichtig diese Demos sind. Und genauso normal ist es, dass wir über Inhalte, also auch über diese Demos, diskutieren. Manchmal knirscht es dann, na und? Ich verteidige die Einheitsgewerkschaft, aber es stimmt schon: Es ist viel, viel schwieriger, als ich es bei meinem Amtsantritt vor zwei Jahren gedacht habe.
Damals sagten Sie: "Die deutschen Gewerkschaften sind stark. Wir haben eine erfolgreiche Zukunft!"
Ja, das glaube ich noch immer! Wir müssen attraktiv sein, starke Gewerkschaften sind wichtig für das Land - gerade jetzt! Wer, wenn nicht wir, schützt die Arbeitnehmer vor Willkür und Lohndumping?
So richtig glauben die Arbeitnehmer wohl nicht mehr an Ihre Macht: Mehr als drei Millionen Mitglieder sind Ihnen in den vergangenen zehn Jahren davongelaufen!
Das hat viele Gründe. Millionen sind arbeitslos geworden, andere haben Hoffnungen verloren, doch es kommen gerade jetzt wieder viele junge Menschen zu uns. Es sind schwierige Zeiten, und es liegt ein Grauschleier überm Land. Doch ich möchte in die Offensive, will die Meinungsführerschaft gegenüber den Unternehmern wieder zurückgewinnen.
Was meinen Sie denn damit?
Mein Gott, ich kann doch nicht so tun, als ob ich Politik im luftleeren Raum mache. Was einige noch nicht kapiert haben, ist, dass es eine informelle, eine ganz große Koalition in Deutschland gibt.
Das hört sich schwer verschwörungstheoretisch an.
Nein, es ist eine einfache Beschreibung der Wirklichkeit. Diese ganz große Koalition reicht von FDP, SPD über die Union und die Grünen zur PDS, wenn sie in Regierungen sitzt. Und sie reicht vor allem weit in die Medien hinein.
Wie? Alle rennen in die gleiche Richtung?
Ja, es herrscht eine bemerkenswerte Einfallslosigkeit, ein verblüffender Gleichklang. Es gibt doch in den großen deutschen Blättern kaum noch einen Wirtschaftskommentator, der über Umverteilung, einen modernen Keynesianismus schreibt und ernsthaft über Alternativen nachdenkt. Die neue Heilslehre heißt unisono Neoliberalismus - und niemand wagt, sie infrage zu stellen! Stattdessen wird rituell die Entfesselung des Marktes verlangt, und die Rettung aus der Krise heißt: Sozialabbau. Den Arbeitgebern ist es mit Initiativen wie der "Neuen Sozialen Marktwirtschaft"gelungen, den Sozialstaatsgedanken systematisch zu stigmatisieren.
Die sagen: Wir können nichts dafür - das ist die Globalisierung!
Globalisierung - ja, sicher, sie verändert viel, aber sie rechtfertigt nicht diesen massiven Angriff auf den Sozialstaat. Nein, der Kapitalismus ist nicht nur internationaler, er ist vor allem rabiater geworden. Wir erleben gerade den verschärften Versuch eines großen gesellschaftlichen Rollbacks: 40-Stunden-Woche, Lohnsenkungen, die Kannibalisierung der Sozialsysteme. Das Land soll verändert werden, generell, prinzipiell und - wie ich es empfinde - in eine negative Richtung. Die Restauration tarnt sich als Fortschritt, nennt sich modern. Aber was Reform genannt wird, ist ein Angriff auf die Würde der Beschäftigten.
Das Verdi-Mitglied Gerhard Schröder sagt, diese Reformen sind ohne Alternativen: "Ich kann keine andere Politik machen!"
Nein! Politik heißt seit Tausenden von Jahren: in Alternativen denken. Wer das nicht will, handelt unpolitisch! Politische Entscheidungen sind doch nicht unkontrollierbare Naturereignisse! Es waren politische Entscheidungen, die dazu führen, dass die Reichen reicher, die Armen ärmer werden. Hartz IV bedeutet in weiten Teilen die soziale Deklassierung von Menschen, Hartz IV ist für Hunderttausende ein Verarmungsprogramm.
Vor knapp zwei Jahren haben Sie das Hartz-Papier gelobt, die Lektüre würde sich lohnen, und "auf jeden Fall ist klar, dass wir nicht mehr zurückkönnen zu einer Arbeitsmarktpolitik vor Hartz. Und das ist, wie man in Berlin so schön sagt, auch gut so".
Ja, aber die Hartz-Gesetze von heute sind nicht das, was Hartz wollte. Die Agenda 2010 und die Hartz-Reform sind - von der FDP und der Union vergiftet - Ergebnisse der großen Koalition. Ein Beispiel: Ursprünglich sollte die Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der Arbeitlosenhilfe, nicht der Sozialhilfe zusammengeführt werden. Es geschieht nun wirklich Schlimmes: der absolute Paradigmenwechsel in der deutschen Sozialpolitik.
"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat", heißt es in...
...Artikel 20 des Grundgesetzes. Aber dieser sozialstaatliche Konsens ist nun gebrochen. Bisher war unser System so ausgerichtet, den Lebensstandard gerade in Notfällen zu sichern. Mit Hartz IV ist das vorbei: Jetzt wird nur noch dafür gesorgt, dass man nicht völlig verarmt.
Das musste sein, heißt es allenthalben: Der Sozialstaat ist zu teuer, wir können ihn uns nicht mehr leisten!
Ich habe nichts gegen vernünftige Reformen, Reformen, die dafür sorgen, dass es den Menschen besser geht. Aber genau das hat die Agendapolitik nicht geschafft; sie löst bislang nicht nur ihre Versprechen - Aufschwung! Arbeit! Jobs! - nicht ein, sie kann zum Sprengstoff für den sozialen Zusammenhalt werden. Am 14. März 2003 hat Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 eine Lawine losgetreten, die andere - Steinzeit-Liberale und Konservative - nun mit Freude immer weiterschieben.
Dagegen gehen nun jeden Montag Zehntausende auf die Straße - und es werden immer mehr.
Ja, es ist doch verständlich. Angst geht um in diesem Land. Und diese Angst hat jetzt auch Schichten erreicht, die früher immer dachten: Sozialhilfe? Armut? Mich betrifft das nicht! Hartz IV zielt jedoch auf die Mitte der Gesellschaft, auf das Herz. Das ist so keine Reform, das ist Abbruch.
Das Konzept von Hartz IV klingt doch vernünftig: fordern und fördern.
Ja, ja, aber wo sind denn die guten Jobs, in die man befördert wird? Beim Fordern hingegen ist alles klar: Arbeitslose müssen bis auf kleine Freibeträge ihr Vermögen verscherbeln, sie müssen einsetzen, was sie für Notfälle zur Seite gelegt haben. Diese Reform wird ja nirgendwo Menschen gerecht, die Jahrzehnte in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben!
Im Fernsehen gibt es nun Tipps: "Wie rette ich mein Erspartes?"
Es ist das Ergebnis einer Politik, die sagt: Wir schreiben eine bestimmte Anzahl von Menschen ab! Wir lassen sie nicht verhungern, aber wir drängen sie in einen Suppenküchen-Sozialstaat ab. Heine hat mal sarkastisch gesagt: Noch nie ist jemand in einem deutschen Gefängnis verhungert.
Sie klingen verbittert.
Nein, illusionslos.
Deutschland - ein Gefängnis?
Unser Land ist natürlich kein Gefängnis! Aber der Sozialstaat muss doch mehr leisten, als den Menschen zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig zu geben. Und die politische Elite mutet den Schwachen immer mehr zu, denkt wohl, die im Dunkeln sieht man nicht. Ab dem 1. Januar 2005 soll jeder Arbeitslose jeden Job zu fast jeder Bezahlung annehmen müssen - bei Löhnen, die bis zu 30 Prozent unter dem ortsüblichen Tarif liegen. Es gibt keine Grenze mehr nach unten - die Grenze ist nur noch Sittenwidrigkeit! Und damit geht das Gesetz hinter Errungenschaften von 1918 zurück - das zeigt auch, wie modern die Reformen sind!
Das ist doch Polemik, Angstmache!
Nein. Wer seinen Job verliert und nicht innerhalb eines Jahres eine Arbeit findet, wird nach unten zur Armutssicherung durchgereicht. Das ist Hartz IV. Das sind amerikanische Verhältnisse. Dazu kommt noch, dass Arbeit nicht vor Armut schützt: rund 6,5 Millionen arbeiten schon jetzt im so genannten Niedriglohnbereich, Verkäuferinnen, Wachleute, Kassiererinnen.
Sie haben diesen Löhnen zugestimmt.
Ja, einem Stundenlohn von 6,65 Euro für Ungelernte. Wir sind in einer Abwehrschlacht. Die Spirale dreht sich nach unten. Hunderttausende arbeiten inzwischen für 2,56, für vier Euro. Wie kann man davon leben? Probieren Sie das mal aus! Millionen müssen so leben, Millionen knappsen am Existenzminimum, ich nenne sie Nudelesser, jeden Tag Nudeln, nichts als Nudeln, ihnen geht es nicht gut. Sie haben jeden Tag Angst um ihre Existenz. Ich möchte, dass diese Menschen und ihre Kinder eine Zukunft haben.
Das klingt sehr pathetisch.
Meinetwegen! Es geht hier, verdammt noch mal, um Würde. Was denken Sie, wie das an die Würde geht, wenn im Fernsehen Politiker reden, als ob die Arbeitslosen Abfall wären, nur lästige Kosten sind?
"Irregeleitete", sagte Wirtschaftsminister Clement, gehen auf die Montagsdemos.
Wer so was sagt, weiß nicht, wovon er redet. Neulich sagte ein früherer Generalsekretär der SPD zu mir: "Glaub mir doch, die 70 000 Ingenieure, die arbeitslos sind - die meisten von ihnen bringen es doch nicht!" Was ist das für ein Zynismus! Hat er noch eine Ahnung, wie schmerzhaft das ist, wenn man entlassen wird! Es gibt inzwischen eine zynische Kaste von Politikern, die abgehoben ist, die keine Ahnung mehr hat, wie es den Menschen im Land geht. Als eine Begründung, warum man die zehn Euro Praxisgebühr einführen muss, sagte mir einer, man müsse die Artztpraxen von den alten Frauen befreien. Die würden da nur rumsitzen, weil sie einsam sind. Ja, mein Gott! Was macht denn die Gesellschaft, damit alte Menschen nicht einsam sind? Das Land ist erkaltet! Solidarität? Kappes!
So wie Sie reden, so wie Sie sich anhören, müssten Sie sagen: Schröder - tritt ab, Clement - tritt zurück. Sofort!
Ich rufe nicht nach Rücktritten. Ich sehe nur, dass Zehntausende sich von der Politik frustriert abwenden, dass diese Politik in eine Sackgasse führt. Zunächst mal in verheerende Wahlniederlagen für die Sozialdemokraten.
Okay, dann verraten Sie doch mal, wie man aus dem Schlamassel kommt?
Das Wichtigste ist: Arbeit schaffen!
Das sagt doch jeder! Das will doch jeder!
Im Sommer 2002 meinte Peter Hartz, seine Vorschläge würden die Arbeitslosenzahlen um zwei Millionen senken! Aber was ist passiert? Seither gab es täglich 680 Arbeitslose mehr, täglich 168 Kinder mehr, die auf Sozialhilfe angewiesen sind.
So sagen Sie doch nun, was zu tun ist!
Wir brauchen Arbeit. Wir müssen die Unternehmer gewinnen, in diesem Land wieder zu investieren und Leute einzustellen, Risiken einzugehen. Die Wirtschaft redet immer davon, dass sich der Staat aus allem zurückziehen soll. Aber gleichzeitig macht die Wirtschaft ohne den Staat nichts - über 100 Milliarden Euro bekommt sie jährlich an Subventionen! Außerdem hat der Staat den Großkonzernen Milliarden geschenkt - Gewerbesteuer faktisch abgeschafft, Körperschaftssteuer deformiert, Verlustvorträge erlaubt. Da kommen für die letzten zwei Jahre über 50 Milliarden zusammen. So hat sich der Staat handlungsunfähig gemacht, sich selbst verarmt.
Angenommen, es stimmt, was Sie sagen: Warum macht Schröder so eine Politik?
Ich weiß es nicht. Ihn treibt wohl die Hoffnung, die pure Hoffnung, mit Steuererleichterungen die Großkonzerne bei Laune zu halten, den Wirtschaftsstandort zu stabilisieren, so den Sozialstaat zu retten. Aber das hat offenkundig nicht geklappt, nur eins hat geklappt: BDI-Chef Rogowski und andere sind rachsüchtig geworden. Sie nutzen die Gunst der Stunde - und wollen alle sozialen Errungenschaften abbauen, wollen einen anderen Staat.
Nochmals: Wie wollen Sie den Sozialstaat retten?
Wir müssen in der Wirtschaftspolitik umdenken: Wir brauchen einen modernen Keynes, der Staat muss stärker investieren; die Kaufkraft, die Inlandsnachfrage müssen angekurbelt werden. Wir müssen auch Tabus durchbrechen, die Einkommens- und Vermögensverteilung korrigieren.
Also ran an die Reicheren?
Die, die viel haben, dürfen wir nicht aus der Solidarität entlassen.
Das ist nett gesagt. Aber das sind doch Rezepte aus dem vorigen Jahrhundert!
Ja? Ich sehe das anders, ich denke eher, dass die Rezepte der Politik, die Rezepte der Arbeitgeberfunktionäre uns zurück in das 19. Jahrhundert führen, dass die Gesellschaft in Arm und Reich zerfällt und der Mittelstand mit seinem Gefühl von Sicherheit wegbricht.
Vor sechs Jahren sorgten Sie mit einer acht Millionen Mark teuren Kampagne dafür, dass die SPD an die Macht kam.
Das stimmt doch nicht, wir haben eine Kampagne für Arbeit und soziale Gerechtigkeit gemacht. Die SPD ist immer noch ein Bollwerk für Mitbestimmung und Tarifautonomie. Aber sie hat viele Positionen geräumt, und wir sind heute schlauer als 1998 und 2002. 2006 wird es mit mir keine Wahlauftritte, keine Wahlaufrufe und keine Wahlempfehlungen geben.
Noch nie, sagt der Ex-SPD-Vorsitzende Lafontaine, sei die Zeit so reif gewesen für eine Partei links von der SPD.
Nein, ich renne nicht weg. Ich möchte innerhalb der Partei -völlig illusionslos - für eine andere Politik kämpfen.
Sie sind ein braver Genosse, ganz so, wie es dem SPD-Vorsitzenden Müntefering gefällt. Und als ob er der Oberchef des DGB sei, verlangt er von Ihnen, "Initiativen, Wahlbündnissen oder Parteien keinerlei logistische oder infrastrukturelle Hilfe für Neugründungen zu geben".
Ich bin kein Befehlsempfänger einer Partei. Das weiß auch Franz Müntefering. Unsere Mitglieder können bei uns Räume mieten - dort Feste feiern, über alles Mögliche diskutieren, auch über eine neue Partei. Ich halte es für falsch, eine neue Partei zu gründen. Die Spaltung der SPD könnte auch zu einer Spaltung der Gewerkschaft führen - und die Linke schwächen.
Sagen Sie mal: Was ist das für ein Gefühl, wenn man vor Tausenden steht - und auf die einredet?
Ich habe da immer Lampenfieber. Es ist ein schönes Gefühl, wenn die Leute klatschen, intensiv zuhören.
Ich finde Ihre Reden langweilig.
Ja? Viele sehen das anders. Ich wusste lange nicht, dass ich reden kann, dass ich dieses Talent habe. Ich habe das durch Zufall entdeckt. Es ging um Kürzungen bei der Post, ich bin - das ist nun schon einige Jahre her - in der Weser-Ems-Halle vor 400 Leuten aufgetreten, und irgendwas zündete da plötzlich. Ich war erstaunt, was da abging, war auch erstaunt, was mit mir selber passierte. Ich war ja ein ganz schüchternes Kind, ich hatte Angst, auf die Menschen zuzugehen, ich bin an Bushaltestellen oft auf die andere Straßenseite gegangen, um den Leuten auszuweichen.
Doch nun sind Sie der große DGB-Boss.
Der weiß, wo er herkommt. Ich kenne Armut und weiß genau, wie demütigend das sein kann. Meine Mutter würde weinen vor Glück, wenn sie wüsste, was aus ihrem Sohn geworden ist. Kriegerwitwe, zwei Kinder verloren, sehr krank und am Schluss arm wie eine Kirchenmaus. Eine großartige Frau. Und sie hat sich krumm gelegt, dass ich studieren konnte.
Es ist schwierig, sich selbst zu beschreiben: Aber was sind Sie für einer?
Ich bin ein Familienmensch. Für mich gibt es nichts Schöneres, als für meine zwei Mädels, also für meine Frau und meine Tochter, zu kochen. Familie ist für mich wichtig. Ich habe kaum mehr persönliche Freunde, je höher ich stieg, desto weniger Freunde hatte ich.
It's lonely at the top.
Ja, oben wird man einsam, Sie fragen sich immer: Will der nun deine Freundschaft, weil du diese Position hast? Man wird vorsichtig. Du lädst jemanden nach Hause ein - und dann nutzt der das aus.
Höre ich da Trauer?
Nein. Ich wollte diesen Job, er ist wunderschön. Aber nun muss ich nach Hause.
Sie müssen jetzt noch kochen?
Ja. Ich koche, und ich genieße das sehr. Ich habe lange in einer Männer-WG gewohnt, jeden Tag haben wir gekocht und sogar immer anständig ein Blümchen auf den Tisch gestellt. Schon heute morgen habe ich überlegt, was ich meinen Mädels heute Abend serviere. Ich renne jetzt bei Rogacki vorbei, die haben guten Fisch.