Kennen Sie Herrn Si Hong Ri? Nein? In Berlin ist er eine lokale Berühmtheit. Das kam so: Am 15. Januar 2012, einem Sonntag, warf Herr Si Hong Ri auf der Freybrücke in Berlin Spandau seine Angel aus. In der Havel sollen an dieser Stelle viele schöne Zander unterwegs sein, ein Fest für Hobbyangler. Dann aber erspähten die Beamten auf Polizeiboot WSP 12 Herrn Si Hong Ri - und überprüften ihn. Einen Ausweis hatte er nicht dabei. Einen Angelschein auch nicht. Aber er sagte zumindest, wer er ist: der Botschafter Nordkoreas. Das checkten die Beamten mit Hilfe eines herbeigeschafften Fotos nach. Dann forderten sie ihn auf, die illegale Fischwilderei, die mit Freiheitsstrafe geahndet werden kann, zu unterlassen. "Dieses nahm der Botschafter wohlwollend und lächelnd zur Kenntnis und setzte die Straftat fort", heißt es in dem Polizeibericht, den die "B.Z." zitiert.
Seine Exzellenz, Herr Si Hong Ri, genießt Immunität. Wie 4215 weitere Personen, die beim Auswärtigen Amt als Diplomaten, Konsuln oder deren Mitarbeiter akkreditiert sind. Sie stehen außerhalb der deutschen Gerichtsbarkeit, so wie deutsche Diplomaten im Ausland außerhalb der Gerichtsbarkeit ihres Gastlandes stehen. Dieses Privileg, 1961 im "Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen" vereinbart, soll verhindern, dass Diplomaten als politische Geiseln genommen und mit fadenscheinigen Behauptungen verfolgt werden, um ihre Entsendeländer unter Druck zu setzen. Diese Gefahr ist weitgehend gebannt. Nicht gebannt ist die Gefahr, dass sich Diplomaten aufgrund ihres Persilscheins wie Gesetzlose aufführen. Und das geschieht täglich, vor allem in Berlin.
Trapp und die Verkehrsrambos
Peter Trapp, 65, Polizeibeamter und CDU-Abgeordneter im Berliner Landesparlament, hörte davon erstmals in seiner Bürgersprechstunde. Verärgert berichteten seine Wähler, dass die Herren und Damen mit den 0-Nummernschildern, also diplomatischen Kennzeichen, kreuz und quer in der Landschaft parkten, so wie es ihnen gefällt. "Da sagt der Normalbürger: Das kann's doch nicht sein. Gäste sollten sich wie Gäste benehmen", empört sich Trapp im Gespräch mit stern.de.
Seitdem stellt er Jahr für Jahr eine kleine parlamentarische Anfrage, um Auskunft von der Senatsverwaltung zu bekommen. Die jüngste datiert auf den 3. Juli 2012. Darin stehen Sätze, die nachdenklich stimmen. Zum Beispiel: "18.886 Verkehrsordnungswidrigkeiten wurden 2011 in Berlin für Kraftfahrzeuge mit Diplomatenkennzeichen registriert." Oder auch: "Bei 20 Verkehrsunfällen wurden Personenschäden registriert." Und: "In 32 Fällen lag der Verdacht eines unerlaubten Entfernens vom Unfallort vor." Oben auf der Hitliste der Verkehrsrambos stehen die Mitarbeiter der diplomatischen Vertretung Saudi-Arabiens. Gefolgt von Russland, den USA und China. Gab es deshalb irgendwelche Strafverfahren? Nein. Die Staatsanwaltschaft stellte sie ausnahmslos ein. Weil die Täter Immunität genießen.
Moderne Sklaverei
Würde es beim Falschparken und Fischwildern bleiben, hielte sich die öffentliche Empörung in Grenzen. Aber manche Diplomaten gehen noch viel weiter, sie prellen Handwerker und Vermieter, schmuggeln Waren, spionieren. Oder errichten, mitten in Deutschland, grausame Parallelgesellschaften. 2008 wurde der Fall einer indonesischen Hausangestellten bekannt, die für den Kulturattaché der jemenitischen Botschaft arbeitete. Zwei Jahre lebte sie abgeschottet in einer Wohnung am Potsdamer Platz, sie soll regelmäßig geschlagen worden sein, ihre tägliche Essensration habe aus einer Scheibe Brot, einer Schale Reis, einer Tomate und zwei Chilischoten bestanden. Als sie mit einer offenen Tuberkulose ins Krankenhaus kam, wog sie noch 35 Kilogramm. Nicht viel besser erging es einer anderen indonesischen Frau, die ihre Geschichte unter dem Decknamen Dewi Ratnasari erzählt hat. 18 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche habe sie für den saudi-arabischen Attaché in Berlin gearbeitet. Geld bekam sie nicht, sie musste auf dem Boden schlafen, selbst die Kinder des Attachés hätten sie geschlagen, mit einem Stock, auf Hände und Unterarme. Der Anwalt des Attachés bezeichnet die Vorwürfe als haltlos. Heike Rabe, Projektleiterin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, das von vier Bundesministerien finanziert wird, benutzt die Worte "moderne Sklaverei", wenn sie über Ratnasari und ihre Leidensgenossinnen redet.
Wie die Lage ist, hat die SPD-Fraktion im Bundestag jüngst in einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung zu eruieren versucht. Insgesamt 22 Fälle seien zwischen 2008 und 2011 aktenkundig geworden, antwortete das Auswärtige Amt (AA), bei denen Hausangestellte von Diplomaten keinen angemessenen Lohn erhielten, Gewalt ausgesetzt waren oder keine Krankenversicherung hatten. Auf die Frage, welche Maßnahmen die Regierung ergriffen habe, schrieb das AA: "Die Bundesregierung nimmt die entsprechenden Fälle sehr ernst. Sie nimmt umgehend Kontakt mit dem Leiter der diplomatischen Vertretung auf und dringt auf Überprüfung und Klärung der Vorwürfe. Dabei gelingt es fast immer, die diplomatischen Vertretungen dazu zu bewegen, ihren Verpflichtungen gegenüber den privaten Hausangestellten nachzukommen." Vor Gericht landete keiner der Dienstherren. Immerhin zahlte die jemenitische Botschaft der Hausangestellten des Kulturattachés 23.000 Euro vorenthaltenen Lohn nach.
Kandidatensuche für Musterprozess
Solche Deals basieren allerdings auf Verhandlungen und freiwilligen Vereinbarungen. Um die Hausangestellten aus dieser Grauzone herauszuholen, versuchte das Deutsche Institut für Menschenrechte im Fall Ratnasari einen Musterprozess zu führen, der das Verhältnis zwischen Immunität und Menschenrechten neu justieren sollte. Doch dieses Vorhaben ist "geplatzt", wie Heike Rabe im Gespräch mit stern.de einräumt. Ein schon feststehender Termin am 22. August beim Bundesarbeitsgericht wurde wieder abgesagt. Der Grund: Der beklagte saudi-arabische Attaché genießt in Deutschland keine Immunität mehr, er ist vergangenes Jahr ausgereist, sein jetziger Aufenthaltsort unbekannt. Ob Ratnasari jemals einen Cent für ihre Arbeit bekommen wird, steht in den Sternen. Von weiterführenden juristischen Konsequenzen redet ohnehin niemand. Für einen Musterprozess braucht es einen neuen Fall, der sich bis vor den Europäischen Menschengerichtshof treiben lässt.
Gleichwohl: Selbst das Menschenrechts-Institut will die Immunität von Diplomaten weder abschaffen noch allein auf die Arbeitswelt begrenzen. Das sei unmöglich, argumentiert Rabe, dann wären beispielsweise auch schwule deutsche Botschafter gefährdet, die in Ländern leben, in denen ihre sexuelle Orientierung unter Strafe steht. Rabe befürwortet die Rechtsbelehrung von Hausangestellten in deren Muttersprache, unabhängige Ansprechstellen sowie die juristische Garantie, dass sie ihren Arbeitgeber wechseln dürfen. Aus der SPD-Fraktion ist zu hören, dass nach der Sommerpause über politische Initiativen nachgedacht würde. Peter Trapp, der Unermüdliche aus dem Berliner Abgeordnetenhaus, will weiter die Öffentlichkeit über die diplomatische Falschparker informieren. Das begrüßt auch die Berliner Polizei. "Über die Statistik kann das Auswärtige Amt indirekt Druck ausüben", sagt deren Sprecher Thomas Neuendorf zu stern.de. "Die Länder wollen nicht, dass ihre Botschaften ganz vorn in der Liste der Falschparker stehen."
Schmuddelkinder in der feinen Welt
Nein, Schmuddelkind in der feinen Welt der dunklen Karossen und maßgeschneiderten Anzüge will keiner sein. Selbst der renitente Angler aus der nordkoreanischen Botschaft scheint dazugelernt zu haben. Seit Januar wurde Herr Si Hong Ri nicht mehr bei der Wilderei gesichtet.