Europawahl AfD, Ampel und andere Abgesänge: Wer jetzt zittern muss 

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen
Wer zuletzt lacht, bestimmt die Zukunft der EU: Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (l.) und Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen
© Roberto Monaldo / LaPresse / DPA
Bei der Europawahl zeichnet sich ein Rechtsruck ab. Parallel finden in acht Bundesländern Kommunalwahlen statt, in Thüringen Stichwahlen von Landräten und Oberbürgermeistern. Für wen es eng werden könnte. 

In der SPD wären sie schon froh, am Sonntag ungefähr beim Ergebnis von 2019 rauszukommen – um und bei 15,8 Prozent, dem bisherigen Tiefststand für die Genossen bei einer Europawahl. Allzu hoch sind die Erwartungen also nicht, die Umfragen (14 Prozent) geben dazu auch wenig Anlass. Für Olaf Scholz könnte das zum Problem werden.  

Die Sozialdemokraten haben Scholz in den Mittelpunkt ihrer Kampagne gestellt. Frühzeitig und großflächig haben sie ihn gemeinsam mit EU-Spitzenkandidatin Katarina Barley als "stärkste Stimmen Europas" plakatiert. Ihr wird in der SPD ein blasser Wahlkampf attestiert, er soll es retten. Die Annahme: Der Kanzler, der sich als unaufgeregter und unbeirrbarer Staatsmann gibt, soll in unsicheren Zeiten als sichere Bank beim Wähler punkten. Hat zur Bundestagswahl schließlich schonmal funktioniert. Das Risiko: Das Ergebnis ist unweigerlich mit dem Kanzler verknüpft. 

Sollte die SPD also einen neuen Negativrekord aufstellen, und das Wahlergebnis von 2019 unterbieten, würde das auch auf Scholz zurückfallen. Seine Qualität als Zugpferd in Zweifel ziehen. Und sein Standing, das ausweislich der Meinungsforscher ganz schön gelitten hat, weiter schwächen. Der Test, mit dem umsichtigen Kanzler Wähler zu mobilisieren, wäre offenkundig missglückt. Ausgerechnet vor den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland und der Bundestagswahl im Herbst 2025, die auch längst ihre Schatten vorauswirft.

Heißt im Umkehrschluss aber auch: Legt die SPD – wider Erwarten – bei der EU-Wahl zu, darf sich der Kanzler in seinem Kurs der demonstrativen Gelassenheit bestätigt sehen. Seine Autorität wäre gestärkt und würde alle Kanzlertausch-Fantasien beenden. 

Kann der Kanzler mobilisieren? Das ist eine Frage, die sich an diesem Sonntag stellt. Aber es ist längst nicht die einzige. 

Die FDP muss bangen: Bricht doch noch die Ampel? 

Die Strategie der FDP für diese Wahl lässt sich auf einen Namen reduzieren: Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die streitlustige Verteidigungspolitikerin soll mit ihrer Bekanntheit dafür sorgen, dass die Liberalen am Sonntag nicht unter "Sonstige" verschwinden. Wochenlang ist sie durchs Land getourt, hat sich auf Marktplätzen anschreien lassen – und mitunter zurückgeschrien. Ihre Fans hat sie damit begeistert, auch bei TikTok kommt Strack-Zimmermann gut an. 

Der Wahlkampf war ein Erfolg, heißt es nun also bei der FDP. Eine Garantie für ein gutes Wahlergebnis ist das freilich nicht. In Umfragen ließ sich kein Strack-Zimmermann-Effekt feststellen. Bei Europawahlen fällt es der Partei traditionell schwer, ihr Wählerpotenzial zu mobilisieren. Das wiederum hat den Vorteil, dass den Liberalen bereits 5,5 Prozent reichen würden, um das Ergebnis von vor fünf Jahren (5,4) zu toppen. Ein Befreiungsschlag raus aus der Todeszone wäre das nicht.  

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Und so darf man davon ausgehen, dass der Druck für die Liberalen in der Ampel-Koalition weiter steigt. Haushalt, Rente, Wirtschaftswende – die FDP wird weiter für ihre Positionen kämpfen, als ginge es ums politische Überleben. Das hat einen Grund: Bleibt der Strack-Zimmermann-Effekt aus, geht es für Lindner und Co. tatsächlich ums politische Überleben. 

Haben der AfD Partei die jünsten Skandale geschadet? 

Die AfD ist in den Umfragen seit Jahresbeginn deutlich abgerutscht und hat etwa ein Drittel ihres Wählerpotenzials verloren. Neben den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und der Konkurrenz durch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) dürfte dies vor allem an der Skandalserie um die EU-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron liegen. Landet die Partei bei den zuletzt prognostizierten 15 Prozent, wäre das zwar ein Plus von vier Prozentpunkten, gemessen an den Erwartungen jedoch ein herber Rückschlag. Folge: Es würde ungemütlich für die Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla – zumal sie sich Ende Juni auf dem Bundesparteitag in Essen ihrer Wiederwahl stellen müssen.  

Helfen könnten ihnen die Kommunalwahlen, die unter anderem in Ostdeutschland stattfinden. Dort darf die AfD mit starken Zugewinnen rechnen. Dies zeigten die Ergebnisse in Thüringen, wo schon am 26. Mai gewählt wurde – wobei die Partei bei den Abstimmungen über die Landräte und Bürgermeister vorerst schwächelte. Doch an diesem Sonntag sind ja noch die Stichwahlen: Mindestens im Altenburger Land und im Saale-Holzland-Kreis rechnet sie sich Chancen auf einen Landratsposten aus. 

BSW: Schafft Sahra Wagenknecht wirklich ihren Achtungserfolg? 

Dass das BSW ins Europaparlament einziehen wird, ist keine Frage. Dafür reicht nur etwa ein Prozent der Stimmen. Doch alles unter fünf Prozent wäre für die neuen Partei eher eine Enttäuschung, während sieben Prozent oder mehr als großer Erfolg gelten würden. In Ostdeutschland sind sogar deutlich höhere Ergebnisse drin. Das gilt auch für die Kommunalwahl. Zwar tritt das BSW nur in Sachsen an, aber dafür nach eigenen Angaben in etwa 80 Prozent der Wahlkreise. Die Ergebnisse aus Thüringen vor zwei Wochen hatten eine Signalwirkung: Dort, wo das BSW antrat, konnte es meist mit zweistelligen Ergebnissen in den Kreistag oder Stadtrat einziehen. 

Rechtsruck bei Europawahl: Wird die EU unregierbar? 

Europa wählt rechts. Das ist die Schlagzeile, die am Montag auf den Titelseiten vieler Zeitungen stehen könnte. Eine Entwicklung, die sich abgezeichnet hat. Die viele befürchtet haben. Nicht nur in Ungarn, auch in Italien, Frankreich und anderen EU-Staaten haben extrem rechte bis rechtsextreme Parteien beste Chancen, am Ende vorne zu liegen. Das verändert nicht nur die Zusammensetzung des Europaparlaments. Das stärkt auch die Vertreter rechts-nationaler Regierungen im Europäischen Rat, etwa Giorgia Meloni, die italienische Ministerpräsidentin.

Ein Foto von Viktor Orbán vor ungarischen Flaggen
Während Viktor Orbán den Wunsch nach Frieden als Wahlkampfthema aufgreift, blickt die ungarische Bevölkerung mit gemischten Gefühlen auf die Europawahl, wie eine Straßenumfrage zeigt. 
"Demokratie hier ist gescheitert": stern-Reporter befragt Menschen in Ungarn zu Orbán und der EU

Der Rechtsruck kann eine Dynamik entwickeln, die sich schwer vorhersehen lässt. Klar ist: Auch Ursula von der Leyen muss mit den neuen Verhältnissen umgehen, wenn sie ihren Job als Kommissionspräsidentin behalten möchte. Die CDU-Politikerin braucht in ganz Europa ein Ergebnis, mit dem sie im EU-Parlament mit den vielen Fraktionen und Gruppen eine Mehrheit finden würde. Die Abgeordneten von Giorgia Melonis Partei Fratelli d’Italia könnten dabei das Zünglein an der Waage sein. 

Sollte sich von der Leyen aber auf ein Bündnis mit den italienischen Postfaschisten einlassen, so kündigte es zuletzt die SPD an, dann würden die Genossen ihr im Parlament die Gefolgschaft verweigern. Es kann Monate dauern, bis von der Leyen weiß, ob sie weitermachen kann. Eine Kommission aufzustellen ist kompliziert. Die Fraktionen müssen sich neu bilden, Bündnispartner gefunden werden. Ein Rechtsruck würde diesen Prozess noch komplizierter machen. Komplett neu allerdings ist die Situation nicht. Schon beim letzten Mal war von der Leyen im Rat auf die Zustimmung Viktor Orbáns angewiesen. 

Absturz der Grünen: Erleben ausgerechnet die Europa-Streber ihr Waterloo?  

Ja, doch, die Grünen sind so etwas wie die Europa-Streber unter den Parteien. Kaum jemand trägt das blaue Sternenbanner so ehrpusselig vor sich her wie sie, kaum eine Partei schneidet bei Europawahlen traditionell so überdurchschnittlich gut ab. Beim letzten Mal, 2019, fuhren sie dicht hinter dem Wahlsieger CDU ihr absolutes Rekordergebnis ein: 20,5 Prozent – bei keiner bundesweiten Abstimmung hatten die Grünen je mehr Stimmanteile gewonnen.   

Es waren andere, grünere, vor allem ökologisch bewegtere Zeiten. Zeiten, in denen Greta nicht viel mehr als das unschuldige schwedische Mädchen war, das freitags nicht zur Schule ging, das auch deutschlandweit tausende junge Menschen zum "Klimastreik” motivierte – und alle zusammen ihre Eltern erst verzuckerten und dann für den Schutz des Klimas begeisterten. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt dieser Fridays for Future-Welle wurde 2019 ein neues EU-Parlament gewählt. 

Soweit zum offiziellen Teil der sonntäglichen Erklärungen zum erwarteten Minus. Nur lässt sich damit freilich nicht jeder verlorene Prozentpunkt weg-argumentieren. Es gibt schon eine gehörige Teilschuld – Baerbocks Schummelbuch, Habecks Heizungsgesetz – daran, dass die Klimabegeisterung Ernüchterung gewichen ist.   

Das Minus haben die Grünen natürlich längt eingepreist. Am Sonntagabend würden sie jedes Ergebnis oberhalb von 14,0 Prozent als "Riesenerfolg!” feiern – auch wenn dann kaum mehr als das neue grüne Kernmilieu für sie abgestimmt hätte.  Alles darunter ließe sich jedoch auch von Terry Reintke nicht mehr schönreden. Terry Who? Reintke. So lautet der Name der grünen Spitzenkandidatin, die so wacker für die Rettung des Green Deals wahlkämpfte, jenes europäischen Investitions- und Umbauprogramms, von dem seine Erfinderin Ursula von der Leyen jetzt nicht mehr viel wissen will. Ob das reicht?