Manche träumen zuweilen noch immer davon, wie traumhaft es einmal war. Wie Schwarze und Rote sich zum politischen Gipfel in Kressbronn am Bodensee trafen. Wie sie zusammen spazieren gingen, gemeinsam badeten, unter Apfelbäumen im Garten saßen und hinaus auf den im Sonnenlicht glitzernden Bodensee blickten. Wie die Große Koalition von 1966 bis 1969 Politik machte. Bei schwäbischer Küche und badischem Wein.
Könnte denn nicht doch noch einmal Realität werden, was die Republik während der ersten Großen Koalition erlebte? Könnten denn Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier nicht ebenfalls einen "Kressbronner Kreis" gründen, um wenigstens das letzte Jahr der zweiten Großen Koalition halbwegs harmonisch hinter sich zu bringen? So wie dies Kanzler Kurt Georg Kiesinger und Kanzlerkandidat Willy Brandt glückte.
Alles unter den großkoalitionären Hut
Am 29. August 1966 reiste Brandt, begleitet von Partei- und Fraktionschef Herbert Wehner, ins Kressbronner Feriendomizil Kiesingers, der noch CDU-Generalsekretär Bruno Heck zum Gespräch bat. Später trafen noch die Fraktionschefs Helmut Schmidt und Rainer Barzel ein. Ein Jahr danach war auch CSU-Chef und Finanzminister Franz-Josef Strauß willkommen, ebenso der SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller. Die Runde, die später auch in Bonn zusammen saß, brachte alles unter den großkoalitionären Hut. Die normale Kabinettsrunde musste abnicken, was im "Kressbronner Kreis" verabredet war. Einen Koalitionsvertrag gab es nicht, dem Bündnis diente die erste gemeinsam abgegebene Regierungserklärung als Basis. Brav wurde sie abgearbeitet, selbst hoch sensible Projekte wie die Notstandsgesetzgebung oder die Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern wurden umgesetzt. Kiesinger und Brandt moderierten, Schmidt und Barzel brachten die Fraktionen auf Linie. Barzel antwortete später einmal auf die Frage, wie er die Republik regiert hätte, wäre er Kanzler geworden: "Wie Helmut Schmidt."
Die politische Idylle ist nicht wiederholbar. Zwar gehen Merkel und Steinmeier höflich miteinander um. Die Kanzlerin hat ihm zur Kanzlerkandidatur sogar gratuliert. Aber die Wehner-Brandt-SPD war damals eine aufstrebende solidarisch geschlossene Partei, die in der Großen Koalition ihre Regierungsfähigkeit beweisen wollte. Die SPD von heute, so das Feuilleton der FAZ, ist gebrandmarkt von einer "innerparteilichen Intrigenlage, die selbst Spezialisten nur noch auf extrabreiten Schaubildern abbilden können." Die Union wiederum war damals schwer angeschlagen nach dem Sturz des glücklosen Kanzlers Ludwig Erhard und dem Ausstieg der FDP aus der Koalition. Kiesinger galt als Notlösung, während Angela Merkel heute in der Union unumstritten ist.
Jeder prahlt damit, es dem Partner gegeben zu haben
Die Große Koalition von heute präsentiert sich nach Koalitionsrunden am liebsten öffentlich in den Kategorien von Gewinnern und Verlierern. Jede Seite prahlt damit, wie man es dem Partner mal wieder bei dieser oder jener Entscheidung gegeben habe. Die Große Koalition von damals diskutierte strittige Fragen nur hinter den fest verschlossenen Türen des Kressbronner Kreises. Auch die parteipolitischen Voraussetzungen der Großen Koalition von heute sind völlig verschieden von der Situation damals. Regierungsfähigkeit muss die SPD nicht mehr beweisen. Die Union wiederum hat sich vom Niedergang in den letzten vier Jahren unter Helmut Kohl in der Opposition erholt. Beide Parteien sind Volksparteien mit breiten Profilen. Vor allem aber: Aus der Vier-Parteien-Landschaft der sechziger Jahre ist durch Grüne und Linkspartei ein unübersichtliches Terrain geworden, in dem sich die Wähler ziemlich frei bewegen. Und schließlich muss sich die Große Koalition von heute in einer Medienlandschaft darstellen, in welcher unbeholfene Akteure wie Kurt Beck nur scheitern können.
Die Rahmenbedingungen der Großen Koalitionen lassen sich nicht vergleichen. Und dass es 2009 endet wie 1969 befürchtet die Union nicht. Nur knapp verpasste Kiesinger bei der Bundestagswahl 1969 mit 46,1 Prozent die absolute Mehrheit. Er ließ sich mit einem Fackelzug feiern, dann ging er gegen Mitternacht schlafen - am nächsten Morgen hatten SPD (42,7) und FDP (5,8) die sozialliberale Koalition besiegelt.