Grundschüler Reif mit fünf?

Viele Eltern wollen ihre Kinder möglichst früh einschulen. Doch Experten raten davon ab, Fünfjährige schon in die Grundschulen zu schicken: Die Schulen sind noch nicht bereit für die Kleinen.

Eines Tages hatte Lukas den Kindergarten endgültig satt. "Ist langweilig dort", moserte der Fünfjährige, der lieber zu Hause am Gartenteich Molche beobachtete oder Regenwürmer unterm Mikroskop untersuchte. Ermuntert durch eine Kampagne des Stuttgarter Kultusministeriums, schickte ihn seine Mutter "in die Grundschule um die Ecke".

Immer mehr Eltern machen es wie Christiane Staab, Rechtsanwältin aus Karlsruhe: Fast jedes zehnte Kind wird in den alten Bundesländern vor seinem sechsten Geburtstag eingeschult, Tendenz steigend. "Kinder wollen deutlich früher lernen, als man das bisher angenommen hat", sagt Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Und ehrgeizige Eltern möchten ihre Kinder keine Zeit mehr mit Spielen in der Kita vertrödeln lassen, sondern wollen, dass sie möglichst früh viel lernen.

Deutschlands Erstklässler sind ziemlich alt

Die Kultusminister unterstützen die- sen Trend, denn Deutschlands Erstklässler sind mit durchschnittlich sechseinhalb Jahren bei der Einschulung im europäischen Vergleich ziemlich alt: In Großbritannien und den Niederlanden beginnt die Schule mit fünf, in Frankreich gehen Kinder mit drei zur Vorschule. Daher haben die meisten Bundesländer die alte Stichtagsregelung gelockert, nach der Kinder, die bis zum 30. Juni ihren sechsten Geburtstag feiern, eingeschult werden. Nun können Eltern wählen, ob sie ihr Kind vorzeitig zur Schule schicken. Berlin hat sogar die Schulpflicht für alle Kinder ab fünfeinhalb Jahren eingeführt, Nordrhein- Westfalen und Bayern schulen schrittweise früher ein.

Doch die Kinder einfach nur früher als bisher in die erste Klasse zu setzen schafft neue Probleme. Denn bisher sind die Schulen gar nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse der Kleinen einzugehen. So bereut Christiane Staab inzwischen ihre Entscheidung. "Sie dürfen nicht glauben, dass ich mich bei 27 Kindern besonders um Ihren Sohn kümmern könnte", erklärte ihr die Klassenlehrerin. Sie erwartete, dass Lukas mit fünf so funktioniere wie ein Großer - und das konnte er nicht.

Endlich nicht mehr überforsdert

Lukas begriff zwar fix die Buchstaben und Zahlen, aber er hatte Mühe, selbstständig zu arbeiten, und trödelte bei den Hausaufgaben. Schon nach wenigen Wochen war der Junge frustriert, weil er nicht schaffte, was die anderen in der Klasse konnten. Er klagte über Kopfschmerzen und Bauchweh. Inzwischen ist Lukas fast elf. Er wiederholte die vierte Klasse und schaffte es jetzt aufs Gymnasium. Nun ist er so alt wie die anderen. "Endlich fühlt er sich nicht mehr überfordert."

Prinzipiell könnten Kinder schon mit fünf Jahren zur Schule, sagt der Göttinger Hirnforscher und Neurobiologe Gerald Hüther. Doch die müsse sich dafür radikal ändern. Lehrer mit "Rasenmähermethoden" - alle lernen das Gleiche - hält er für ungeeignet. Fünfjährige brauchten stattdessen "maßgeschneiderte Aufgaben, an denen sie wachsen können". Ob die angemessen waren, "erkennt man am Stolz des Kindes, wenn es sie gelöst hat".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Fünfjährige brauchen Nischen

An der Hunsrück-Grundschule in Berlin kümmert sich Sonderpädagogin Andrea Klose gemeinsam mit der Klassenlehrerin um 25 Kinder unterschiedlichen Alters. Fünfjährige ticken ganz anders als Sechsjährige, beobachtet sie. "Fünfjährige haben eine andere Wahrnehmung, können nicht so lange sitzen und sich konzentrieren. Sie wollen noch viel spielen und brauchen Nischen, in denen sie auch mal ungestört sein können." Für sie müsse Schule noch ein bisschen wie Kindergarten sein - mit genügend Rückzugsmöglichkeiten.

Viele Lehrer wüssten nicht, wie sie mit unterschiedlichen Kindern umgehen sollen, meint Inge Hirschmann, Vorsitzende des Berliner Grundschulverbandes. Und die Unterschiede sind in einer Eingangsklasse mit Fünfjährigen besonders groß. Zwischen zwei Gleichaltrigen könnten bis zu drei "Entwicklungsjahre" liegen, sagt die Schulleiterin. Die einen können schon lesen, andere "müssen erst mal neugierig gemacht werden auf Buchstaben".

Obwohl die Kultusministerkonferenz seit mehr als einem Jahrzehnt die frühe Einschulung empfiehlt, weiß niemand, wie Schulkarrieren von Kindern verlaufen, die mit fünf eingeschult wurden. Frühestens in zwei Jahren könnte eine nationale Längsschnittstudie erste Erkenntnisse liefern.

Das dreigliedrige deutsche Schulsystem bevorzugt mit seiner frühen Auslese reifere und somit "funktionierende" Schulanfänger. Das legen Untersuchungen des Volkswirtschaftlers Patrick Puhani nahe. Der Professor an der Universität Hannover verglich die Laufbahnen von 180.000 Schulanfängern. Ergebnis: Wer erst mit sieben eingeschult wurde, hatte in den folgenden Jahren 13 Prozent höhere Chancen, später aufs Gymnasium zu kommen, als die Jüngeren. Die holten die Defizite erst nach der zehnten Klasse wieder auf.

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