Worum geht es im Halle-Prozess?
Verhandelt wird ab diesem Dienstag nicht weniger als einer der schlimmsten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte. Am 9. Oktober 2019 versuchte Stephan B., schwer bewaffnet in die Synagoge in Halle einzudringen, in der Gläubige den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, begingen. Das gelang ihm nur deshalb nicht, weil eine schwere Holztür seinen Angriffen standhielt. Der damals 27-Jährige erschoss dann in der Nähe eine 40 Jahre alte Frau und einen 20-Jährigen. Auf der Flucht verletzte der Täter ein Paar schwer und raubte eine Auto, bevor er nahe Zeitz von zwei Polizisten festgenommen wurde. Das Geschehen streamte B. live ins Internet.
Der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt sieht in der Tat auch einen "erschreckenden Beleg" für einen seit längerem gestiegenen Antisemitismus, "der sich sodann als Motivation für rechtsextremistische Straf- und auch Gewalttaten widerspiegelt."
Warum findet das Verfahren in Magdeburg statt?
Originär zuständig ist das Oberlandesgericht Naumburg. In dessen Gebäude, wie auch in anderen Landgerichten Sachsen-Anhalts, zum Beispiel direkt in Halle, steht jedoch nach Angaben der Justiz kein ausreichend großer Saal zur Verfügung. Daher sei man nach Magdeburg ausgewichen. Saal C 24 des dortigen Landgerichts ist mit 400 Quadratmetern verhältnismäßig groß und bietet so ausreichend Platz für die vielen Prozessbeteiligten, für 50 Zuschauer und 44 Medienvertreter. Auch spielten bei der Auswahl des Saales die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen eine Rolle. 300.000 Euro hat das Land Sachsen-Anhalt für den Prozess zusätzlich in die Hand genommen.

Wie sind die Sicherheitsvorkehrungen?
Immens. Stephan B. hat bereits einen Fluchtversuch aus der Untersuchungshaft unternommen, unter anderem deswegen wird er mit Hand- und Fußfesseln in das Gerichtsgebäude und den Sitzungssaal gebracht. Während der Verhandlung werden nur die Handschellen gelöst. Zudem ist der Angeklagte "durch jeweils mindestens zwei Justizvollzugsbedienstete oder Justizwachtmeister bewachend zu sichern und auf Anordnung der Vorsitzenden in die Verwahrzelle zurückzuführen", heißt es in der sogenannten sitzungspolizeilichen Anordnung der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens.
Auch die Zuschauer und Pressevertreter müssen sich mit besonderen Sicherheitsmaßnahmen abfinden. Zugang zum Gerichtssaal gibt es nur gegen Vorlage des Ausweises, zudem müssen zwei Sicherheitsschleusen passiert werden, in denen Bedienstete unter anderem Kontrollen auf gefährliche Gegenstände vornehmen.
Welche Strafe muss Stephan B. erwarten?
Sollte Stephan B. unter anderem wegen der beiden Morde schuldig gesprochen werden, wovon nach Lage der Dinge ausgegangen werden kann, muss er lebenslänglich ins Gefängnis. Eine vorzeitige Entlassung frühestens nach 15 Jahren käme nur in Frage, wenn das Gericht keine besondere Schwere der Schuld feststellen würde. Die besonders brutale und rücksichtslose Vorgehensweise von Stephan B., seine Motivlage und die Persönlichkeit des Angeklagten sprechen aber dafür, dass die besondere Schwere der Schuld festgestellt werden wird – Stephan B. würde dann für weit mehr als 15 Jahre in Haft kommen.
Ist Stephan B. voll schuldfähig?
Ein forensischer Psychiater hat sich genau mit dieser Frage auseinandergesetzt, mit eindeutigem Ergebnis: Es gebe keine Hinweise darauf, dass Stephan B. steuerungsunfähig gewesen sei, heißt es am Ende des mehr als 100 Seiten starken Gutachtens. B. wusste demnach, was er tat und er wusste, dass er damit großes Unrecht angerichtet hat. Und: Der Gutachter geht davon aus, dass B. in Freiheit erneut schwere Straftaten begehen oder Menschen töten wird.

Handelte Stephan B. alleine?
Nach dem Anschlag in Halle hat der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich gezogen und das Bundeskriminalamt (BKA) mit ihnen betraut. Dort richteten die Ermittler die "Besondere Aufbaueinheit 'Concordia'" ein, die sich unter anderem mit der Frage befasst hat, ob Stephan B. Unterstützer oder Mitwisser hatte. Die Beamten stiegen tief ein in die Biografie von Stephan B., befragten ehemalige Mitschüler, Lehrer, Bundeswehrkameraden, Kommilitonen, Uni-Dozenten, Familienmitglieder, Bekannte. Auf rund 20.000 Seiten Akten haben die Ermittler ihre Erkenntnisse zusammengetragen, über das Vorleben des Angeklagten, über seine Tatvorbereitungen. Das ernüchternde Ergebnis: Niemand ahnte, was Stephan B. plante, niemand kannte seine Gesinnung. B. war in keiner Neonazi-Szene vernetzt, sondern schmiedete sich sein krudes Weltbild daheim im Kinderzimmer bei seiner Mutter am Computer. Auf Imageboards und in Foren fand er Gleichgesinnte, die ihn motiviert haben mögen. Erkenntnisse, dass er dort über seinen Plan berichtet hat, gibt es nicht. Seine Waffen und Sprengsätze baute er alleine in der Werkstatt seines Vaters zusammen, offenbar ebenfalls unbemerkt von anderen.
Wer tritt als Nebenkläger auf?
Rund 50 Nebenkläger sind mittlerweile laut Gericht zugelassen worden. Viele von ihnen sind bislang nicht an die Öffentlichkeit getreten. Grundsätzlich können sich Menschen einer Nebenklage anschließen, die unter anderem von einer Tat "gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit" betroffen sind, wie das Gericht mitteilte. Neben Vertretern der Jüdischen Gemeinde Halle wie dem Vorsitzenden Max Privorozki, hat auch der Amerikaner Ezra Waxman vor dem Prozess mit Journalisten geredet.
Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur DPA sagte der 32-Jährige: "Ich bin ein bisschen nervös." Gemeinsam mit Freundinnen und Freunden habe er 2019 an Jom Kippur kleinere und ältere jüdische Gemeinden beleben wollen und sei deswegen nach Halle gekommen.
"Ich weiß nicht genau, was ich von dem Prozess erwarten soll", sagt er. Natürlich hoffe er, dass Stephan B. so lange hinter Gitter komme wie er eine Gefahr für die Gesellschaft sei. Zudem wolle er mehr über ihn erfahren, verstehen wie er denkt und was ihn antreibt, weil er sich dann sicherer fühle. "Ich kenne niemanden wie ihn, deswegen würde ich gerne verstehen, wie er Hass auf Menschen entwickeln konnte, die er nicht mal kennt."
Auch der Taxifahrer Daniel W. gehört zu den Nebenklägern. Am 9. Oktober war sein Wagen in einer Werkstatt – die Reifen sollten gewechselt werden – als das Taxi mit Waffengewalt geraubt wurde, um die Flucht fortzusetzen. Zum Prozess sagt er: "Der Täter soll seine gerechte Strafe bekommen. Zudem hoffe ich, dass ich die wirtschaftlichen Schäden ersetzt bekomme." Er beziffert diesen Schaden auf rund 12.000 bis 14.000 Euro, entstanden auch durch Umsatzverluste. Erst am 9. Dezember sei das gestohlene Taxi wieder einsatzbereit gewesen.
Die Doktorandin der Philosophie, Christina Feist, sagte vor dem Prozess der Zeitung "taz", sie wolle wissen, ob sich der Attentäter wirklich unbemerkt radikalisiert habe. Zudem habe sie noch einen Rest Hoffnung, dass der Prozess Menschen aufrütteln werde. Sie war bei dem Anschlag ebenfalls in der Synagoge.
Am Donnerstag wurde zudem ein Betreiber des vom Anschlag betroffenen Döner-Imbisses als Nebenkläger zugelassen. Das bestätigte ein Gerichtssprecher auf Anfrage. In dem Geschäft war der 20-Jährige erschossen worden.
Wann soll das Urteil fallen?
Das Gericht hat vorab insgesamt 18 Verhandlungstage angesetzt, nahezu wöchentlich, fast immer dienstags und mittwochs. Der letzte Prozesstermin ist für den 14. Oktober geplant, dann soll auch das Urteil fallen – nach bisheriger Planung. Durch unvorhersehbare Ereignisse kann der Termin jedoch auch nach vorne oder weiter nach hinten rücken, zum Beispiel wenn weitere Zeugen gehört werden müssen.
Wieso kürzt der stern den Namen des Angeklagten ab?
Mit seinen Taten wollte Stephan B. die maximale Aufmerksamkeit. Er beging sie in aller Öffentlichkeit, er streamte sie live ins Internet, er bereitete Pamphlete vor, die seinen Wahnsinn rechtfertigen sollten. Wie sein Vorbild, der Attentäter von Christchurch, wollte auch B., dass die Welt nach den Morden sein Gesicht kennt, seinen Namen weiß. Er wollte eine Art Märtyrer sein und mögliche Nachahmer inspirieren.
Der stern tut B. diesen Gefallen nicht, das entschied die Redaktion bereits am Tag des Anschlags. Wir informieren über den Prozess, ohne dem Angeklagten die gewünschte Bühne zu bieten – wir nennen nicht seinen Namen, werden sein Gesicht nicht zeigen und keine seiner Aufnahmen aus dem Livestream verbreiten.
Wo gibt es weitere Informationen?
Das Interesse an dem Gerichtsverfahren ist riesig. Mehr als 200 Medien aus dem In- und Ausland haben sich für den Prozess angemeldet – längst nicht alle Pressevertreter finden im Saal C 24 des Landgerichts Magdeburg Platz. Ein eigener Arbeitsraum für Journalisten mit Tonübertragung aus dem Sitzungssaal wurde eingerichtet. Ein Losverfahren musste daher über die Platzvergabe entscheiden. Unter den gut 40 Medien, die direkt aus dem Saal berichten können, ist auch der stern. Bei stern.de werden Sie daher aus Magdeburg und auch aus der Redaktion in Hamburg fortlaufend über alle aktuellen Entwicklungen zum Prozess informiert.
Eine fünfteilige Serie rekonstruiert zudem detailliert die Tat, ihre Vorbereitungen und die Ermittlungen der BKA-Einheit "Concordia":
- Teil1: "Mutti, mach's gut": Die letzten Stunden des Halle-Terroristen vor der Tat
- Teil 2: Protokoll einer unfassbaren Tat: Anderthalb Stunden, die Halle für immer verändern
- Teil 3: Er braucht ein Auto. Dann schießt er. Über die Flucht des Halle-Attentäters Stephan B.
- Teil 4: Hunderte Zeugen und 20.000 Seiten Akten – wie Ermittler in das Leben des Halle-Attentäters Stephan B. eintauchen
- Teil 5: 31 Stunden Psycho-Drama: Wie die Ermittler die Abgründe des Halle-Attentäters ausleuchten